Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Die Wälder schweigen“ von Erich Kästner beinhaltet gegensätzliche Vorstellungen von Natur und Zivilisation, d. h. von dem Leben auf dem Land bzw. dem Leben in einer (Groß-)Stadt. Erich Kästner beschreibt in seinem Gedicht die Natur als das, was die Menschen gesund macht, und als das, was den Menschen eine große Vielfalt und Abwechslung ebenso wie Geborgenheit und Freiheit bieten kann. Im Gegensatz dazu steht in Kästners Gedicht das Leben in einer Stadt, welches trist, leblos und monoton ist.
Schon die Aussagen „Die Jahreszeiten wandern durch die Wälder“ und „Die Jahreszeiten strolchen durch die Felder“ (V. 1 und 3) drücken einen Gegensatz zu dem monotonen Stadtleben aus, das den Menschen das immer gleiche „Dächermeer, das ziegelrote Wellen schlägt“ (V. 6), bietet. In der Natur dagegen erlebt der Mensch den Jahreszeitenwechsel; er sieht Pflanzen, die wachsen und später blühen, oder auch Felder, auf denen zuerst gesät und im Spätsommer geerntet wird. In der Stadt kann man die Jahreszeiten nicht erleben, man erfährt sie nur durch die Zeitung oder einen Blick auf den Kalender. Eine weitere Vorstellung von der Zivilisation, die das Gedicht zum Ausdruck bringt, ist, dass die Seele eines Menschen durch den monotonen Ablauf des Stadtlebens krank wird. Dafür sind verschiedene Dinge verantwortlich, wie zum Beispiel „die Luft, die dick und wie aus einem grauen Tuch“ ist (vgl. V. 7). Das triste Grau ist zusammen mit der Leblosigkeit, die durch die Metapher1 und Personifikation2 „das Dächermeer, das ziegelrote Wellen schlägt“ (V. 6) ausgedrückt wird, da die vielen Dächer im Gegensatz zu Bäumen, die leben und Lebewesen als Schutz dienen, tot sind, für die kranke Seele verantwortlich. Ebenfalls belastend wirkt die große Anzahl von Menschen in einer Stadt und der daraus resultierende Stress. Der Mensch findet sich in der großen grauen Masse wieder; er ist nur einer unter vielen. Diesen Sachverhalt hat Erich Kästner durch die häufige anaphorische Verwendung des unpersönlichen Personalpronomens „man“ (V. 2, 4, 5, 8, 9, 12, 16 und 20) zum Ausdruck gebracht. Der Mensch möchte am liebsten „aus den Büros und den Fabriken“ der Stadt fliehen (V. 16), und zwar dorthin, „wo die Gräser wie Bekannte nicken“ (V. 18), d. h. in die Natur, die die Seele des Menschen von den Problemen des Alltags in der Stadt befreien kann.
Die Vorstellung des lyrischen Sprechers von Natur ist, dass die Natur die Träume der Menschen „von Äckern und von Pferdeställen“ (V. 8) und „von grünen Teichen und Forellen“ (V. 9) erfüllen kann. Im Gedicht erscheint die Natur als ein vielfältiges, buntes und lebendiges Wesen, das in der Lage ist, dem Menschen Geborgenheit zu geben. Zwischen der Natur und dem Menschen besteht Nähe und Verwandtschaft, denn „mit Bäumen kann man wie mit Brüdern reden“ (V. 12). Der Mensch ist in der Natur nicht mehr nur einer unter vielen; er kann sich ganz alleine der Natur anvertrauen, denn die Natur gibt ihm das, was er braucht: Stille („Und möchte in die Stille zu Besuch“, V. 10). Sie ist der Ort, an dem der Mensch sich erholen, sich entspannen und ruhig werden kann, und sie ist letztendlich der Ort, der die Seele des Menschen wieder gesund macht, da sie die Sehnsüchte der Menschen ausfüllen kann.
Erich Kästner hat diese Erkenntnis ganz bewusst an das Ende seines Gedichts geschrieben und er hat sie durch eine metrische Abweichung, einen 2-hebigen Jambus, besonders betont, denn alle anderen Verse des Gedichts weisen einen 5-hebigen Jambus auf.
Abschließend denke ich, dass der Mensch dem tristen, monotonen und stressigen Stadtleben nur durch gelegentliche Ausflüge in die Natur entfliehen kann, in deren Vielfalt, Lebendigkeit und Ruhe er sich geborgen fühlen kann.