Gedichtinterpretation: Georg Trakl – Abendlied (Expressionismus, von Daniel Walkam)

1 Am Abend, wenn wir auf dunklen Pfaden gehn,
2 Erscheinen unsere bleichen Gestalten vor uns.

3 Wenn uns dürstet,
4 Trinken wir die weißen Wasser1 des Teichs,
5 Die Süße unserer traurigen Kindheit.

6 Erstorbene ruhen wir unterm Hollundergebüsch,
7 Schaun den grauen Möven zu.

8 Frühlingsgewölke steigen über die finstere Stadt,
9 Die der Mönche edlere Zeiten schweigt.

10 Da ich deine schmalen Hände nahm
11 Schlugst du leise die runden Augen auf,
12 Dieses ist lange her.

13 Doch wenn dunkler Wohllaut die Seele heimsucht,
14 Erscheinst du Weiße2 in des Freundes herbstlicher Landschaft.


Anmerkungen
1 Mond bzw. Mondlicht, das auf der Wasseroberfläche gespiegelt wird.
2 Gemeint ist wohl der Mond, den das lyrische Ich (~Trakl) mit der Schwester assoziiert.


Gliederung

A) Georg Trakl – Tragik eines Lebensweges

B) Gedichtanalyse

  1. Inhalt

  2. Form und Sprache

    1. Metrum und Rhythmus

    2. Reim und Strophenaufbau

    3. Wortwahl und -stellung

  3. Motive

    1. Todesmetaphorik

    2. Nostalgieaspekt

    3. Vergänglichkeitsaspekt

    4. Dissoziation zwischen Mensch und Natur

C) Literarische Einordnung


Analyse und Interpretation

Beschäftigt man sich mit dem österreichischen Lyriker Georg Trakl (1887-1914), so beschäftigt man sich gleichsam mit der Tragik eines Lebensweges. Man stößt dabei auf den Jungen, der früh mit den Drogenproblemen seiner Mutter konfrontiert wird und dem enormen Druck seitens der Eltern einen gut situierten, bürgerlichen Beruf zu erlangen. Man lernt den Jungerwachsenen kennen, der in der Schule nur als „Sonderling“ bekannt ist, aufgrund seiner Auflehnung gegenüber allen Normen der Gesellschaft. Letztlich trifft man auf die wahrscheinlich interessanteste Figur seines kurzen Lebens, den Lyriker, den Expressionisten, der durch die allgemeine Unverständnis und innerfamiliäre Konflikte in eine stetig düster-pessimistische Haltung verfällt, deren Depressionen ihn schließlich in die Drogen- und Trunkensucht treiben. Auch seiner „Lieblingsschwester“ Grete verhilft er wiederholt zu Rauschmitteln und hat eine sehr enge, möglicherweise sogar inzestuöse Beziehung zu ihr. Bezeichnend für Trakls erschüttertes Naturell ist ein ständiger Wechsel von „mönchischer“ Askese mit nächtelangen Zechgelagen.
Die Tragik seines Lebens endet an einer Überdosis Kokain am 3. November 1914, nachdem er seiner schweren seelischen Krise durch den hereinbrechenden ersten Weltkrieg nicht mehr gewachsen ist. 1

Widmet man sich nun, mit diesem biographischen Vorlauf, dem 1912/1913 erschienen Abendlied Georg Trakls, so konstituiert sich der (für Abendlieder typische) Melancholiegedanke schon in den ersten Versen des Gedichts und wandert fast wie ein Schatten fort bis zur letzten Strophe.
Bezüglich des Rhythmus ist es losgelöst von einem durchgehenden, metrischen Ablauf. Es wird zudem auf den Endreim verzichtet und auch auf eine einheitliche Strophengestaltung. Das lyrische Ich entzieht sich somit den äußeren, normativen Zwängen und schafft sich bewusst eine Gegenrealität, wobei dies eng mit den biographischen Feststellungen zuvor korreliert. Damit kann das lyrische Ich höchstwahrscheinlich als Autor selbst identifiziert werden und das Gedicht als Verarbeitung seiner Depressionen.
Untersucht man Form und Inhalt so ergänzen sich diese durchaus: teilt man die sechs Strophen des Gedichts in der Mitte, erhält man jeweils 3 Strophen mit einer beidseitigen Versaufteilung 2-3-2, sodass geradezu eine Symmetrieachse an dieser, auch inhaltlichen, Bruchstelle entsteht. In der ersten Hälfte dominiert die melancholische Zuspitzung. Die „dunklen Pfade“ (Z.1) wirken dabei wie der bedrohliche Weg auf den man sich begibt, was die „bleichen Gestalten“ (Z.2) noch verstärken. Wohin dieser Weg führen kann zeigt die Todesmetaphorik („Erstorbene“), die in der 3. Strophe aufgegriffen wird und die gestützt wird durch das „Hollundergebüsch“ (Z.6), das hier wie morsches Geäst wirkt und längst nicht mehr in stiller Schönheit des Frühjahrs weiße Blüten trägt. Ähnliches gilt für die Metapher der „grauen Möven“ (Z.9). Der Blick gen Himmel fixiert sich auf eine düstere, kalte Farbe und auch mit dem Tiere selbst assoziiert man eher ein unmelodisches Krächzen, oder ein klagendes Schreien. Anfang der zweiten Hälfte verleiht das „Frühlingsgewölke“ (Z.8), welches sich über die „finstere Stadt“, die finstere Stimmung, erhebt, einen gewissen Entspannungseffekt, der sich mit Strophenverlauf am Ende sogar in eine Art aufblitzenden Hoffnungsschimmer wandelt. Dieser, im Vergleich zu den anderen Strophen, doch sanfte Ausgang wird auch unterstützt durch die hier besonders auffälligen, weiblichen Kadenzen der letzten Verse.
Auch der sprachliche Aspekt wird diesem Gemütsumschwung gerecht. Die erste und letzte Strophe können durch die Parallelverwendung der auftauchenden Wörter (dunklen Pfaden – dunkler Wohllaut; bleichen Gestalten – Weiße, Freundes) als Rahmen des Gedichts bezeichnet werden, wobei sich darin durchaus eine positive Wendung feststellen lässt. Auch die Wortwahl und Farbsymbolik kann diesbezüglich interpretiert werden, mit einem überwiegend melancholischen Sprachstil (Adjektive: dunkel, bleich, traurig, grau, finster; Nomen: Abend, Gestalten, Stadt) und der positiv anmutenden Auflösung (Adjektive: weiß, edlere; Nomen: Frühlingsgewölke, Wohllaut, Freundes). Wodurch kommt es nun aber zu diesem Umschwung?
Dazu sollten vor allem die 2. und 5. Strophe genauer betrachtet werden, die wiederum durch ihre jeweils drei Verse eine besondere Stellung im Gedicht einnehmen. Die Metapher die „weißen Wasser des Teichs“ (Z.4) klingt durch die integrierte Alliteration sehr weich und rein und sie könnte somit eine Art Jungbrunnen darstellen, aus dem das lyrische Ich seine depressive Seele auffrischt mit den jungen, tatenfrohen Gedanken der „Süße“ der „Kindheit“ (Z.5). Jedoch scheint es sich auch um eine „traurige Kindheit“ zu handeln, die der Stimmung einen leichten Dämpfer versetzt. Auch der „Teich“ selbst wirkt bei näherer Betrachtung eher wie einem äußeren Zwang unterworfen, wie künstlich angelegt, das Wasser steht still und kann nicht frei fließen wie in einem Fluss. Bezieht man diese Aspekte auf das Leben Trakls so könnte sich in diesem Teich die schwere seiner Kindheit spiegeln, die äußeren negativen Einflüsse und der hohe Druck seiner Eltern.
Insgesamt ist diese 2. Strophe also geprägt von einem gewissermaßen wehmütigen Nostalgieaspekt, der in der 5. Strophe durch den Tempuswechsel in die Vergangenheit noch intensiviert wird. Um welche Figur es sich hierbei handelt, die direkt mit „du“ angesprochen wird und somit eine engere Verbindung impliziert, lässt sich aufgrund der spärlichen Umschreibung nur erahnen. In jedem Fall lässt sich die Sehnsucht der längst vergangenen Zweisamkeit deutlich heraushören, wobei das auftretende Enjambement (Z.10/11) und die Assonanz der „runden Augen“ (Z.11) den zwei Versen eine äußerst gediegene Stimmung einhaucht, ja mit den „schmalen Händen“, die das lyrische Ich berührt, nahezu an ein romantisches Bild erinnert wird. Autobiographisch interpretiert könnte als angesprochene Person seine Schwester Grete vermutet werden, zu der Trakl ja (wie eingangs erwähnt) eine enge Beziehung unterhielt.
Ein wichtiger Gesichtspunkt, der in das ganze Gedicht geflochten wird, ist zudem die Vergänglichkeit. Beginnend bei der Erinnerung an die Kindheit (Z.5), altern die Gedanken symbolisch mit den Jahreszeiten von der Jugendlichkeit des Frühjahrs und zurückfallen in eine „romantische“ Sehnsucht (Strophe 5), hin zum herbstlichen Alter. Bezieht man diese Vergänglichkeit weniger biographisch, sondern konzentrierter auf die Dissoziation zwischen Mensch und Natur, so würde die Metapher der „finsteren Stadt“ (Z.8) vielmehr für die Enthumanisierung durch die hereinbrechende Industrialisierung stehen, also für Probleme des Menschen mit seiner Umwelt. Symbolisch würde der „Mönch“(Z.9), der ja allgemein sehr zurückgezogen und naturverbunden lebt, für eine Art geistige Entfaltung und Erkenntnis stehen, die jedoch durch den Einfluss der modernen Welt verschwiegen wird. Diese angesprochenen „edleren Zeiten“(Z.9) lassen sich nur noch in einer Art „mönchischer“ Askese, ein tiefes in sich Ruhen, erahnen und enden letztlich in nostalgischer Schwärmerei. Demnach würde die auftretende Figur der 5. Strophe die, angesichts der fortschreitenden Zeit, verblassende Natur darstellen und diesen „dunklen Wohllaut“ melancholisch in der „herbstlichen Landschaft“ erklingen lassen, in sanfter Erinnerung an eine bessere, vergangene Zeit.
Gleich wer oder was mit der Figur gemeint ist, sie vermag es der tristen Herbstzeit, dem alternden Leben, dieser bedrückenden Vergänglichkeit einen aufblitzenden Hoffnungsschimmer zu entzaubern. Sie vermag es auch in schwerer Zeit einen schönen Gedanken träumen zu lassen. Somit wird der gesamtmelancholische Eindruck kompensiert und eine Art positiver Ausklang bedingt.

Im Gegensatz zu einer eindeutigen Interpretation von Gedichten Trakls, die durch seine hermetische Lyrik und Verwendung vieler Chiffren erschwert wird, kann man diese handfest einer literaturhistorischen Epoche zuordnen, dem Expressionismus. Besonders kennzeichnend hierfür ist die auftretende Farbsymbolik (grau, dunkel). Ein weiterer Anhaltspunkt ist die allgegenwärtige Vergänglichkeit, die sich vordergründig auf den Menschen bezieht. In diesem Zusammenhang steht auch das Thema Großstadt und Naturabweichung, wobei sich der Mensch in der modernen Zeit verirrt und nach dem verlorenen Geiste schreit. Somit stellt die ganze Epoche eine Art Notschrei dar, der sich auch künstlerisch manifestiert.


Anmerkungen:
1 Vgl. http://www.fundus.org/pdf.asp?ID=461 [1]



Weblinks:
[1] http://www.fundus.org/pdf.asp?ID=461