Analyse: Jens Jessen – „Selbsthass des Westens – Der Markt kennt keine Weltpoesie, aber globalisierte Neurosen“

Selbsthass des Westens
Der Markt kennt keine Weltpoesie, aber globalisierte Neurosen
Von: Jens Jessen

Was wird aus der Dichtung im Zeitalter der Globalisierung? Im allgemeinen reagiert Literatur nicht auf die Zeitläufte. Sie reagiert auf andere, vorher und gleichzeitig geschriebene Literatur, und selbst wenn man einmal unterstellt, dass die Globalisierung der Märkte auch die Zugänglichkeit fernerer Literaturen steigert, dann hat man damit noch immer keine andere Situation, als es sie schon zur Goethezeit gegeben hat. Jahrtausende wurden übersprungen, indem die antiken Klassiker als Vorbild erneuert wurden; Kulturgrenzen wurden übersprungen, indem indische, iranische, arabischer Autoren adaptiert1 wurden. Man schämt sich fast daran zu erinnern, dass viel früher schon, im europäischen Mittelalter, die Kenntnis der griechischen Philosophie erst durch die Vermittlung arabischer Gelehrter wieder in Europa heimisch wurde.

Man könnte also sagen: die Literatur war immer schon globalisiert, wenn auch nur nach Maßgabe der Weltkenntnis, die man nun einmal haben konnte. In jüngerer Zeit (aber immer noch vor dem Globalisierungsgerede) haben Dichter wie der Mexikaner Octavio Paz [1] sich weitläufig (und programmatisch) von den Literaturen fremder Kulturkreise anregen lassen und sie zu einem Amalgam2 mit der eigenen Tradition zu verschmelzen versucht. Man könnte die Dichtung von Paz als „Weltpoesie“ bezeichnen; aber was wäre mit damit gemeint? Doch nur die Resultate fruchtbarer Missverständnisse; denn das Medium, in dem er die anderen Literaturen integriert, ist natürlich seine Subjekvität, die unhintergehbar von seiner eigenen, also der europäisch-iberischen3 Kulturtradition geprägt wird.

Zu dieser Tradition gehört nun aber gerade die Neugierde auf das Fremde. Es ist ein koloniales Muster, dass sich in dieser Aneignung des Fremden vollzieht, und es bleibt ein koloniales Muster, auch wenn es vom Protest gegen Kolonialisierung angetrieben wird oder vom schlechten Gewissen des Kolonisators, der das Fremde, das er bisher unterworfen hat, nun feiern will. Nach diesem Muster ist die Auseinandersetzung mit fremden Kulturen in Europa oft abgelaufen; der „Edle Wilde“, von dem man lernen wollte, nachdem man ihn zuvor geschändet hatte, ist eine Projektion des eigenen schlechten Gewissens, zumindest aber des Unbehagens in der eigenen Kultur. Was könnte die Globalisierung hier Neues bringen? Sie könnte natürlich das koloniale Muster vom europäisch geprägten Westen ausdehnen auf weitere Völker und Kulturen der Welt, die dann ihrerseits ein koloniales Verhältnis gegenüber ihrer eigenen oder fremden Kulturen entwickeln. Manches spricht sogar dafür, dass dies der Fall ist und orientalische Dichter zum Beispiel schon ein westliches Auge auf die eigene Kultur zurückwerfen: selbst das kritische Bedauern über den Untergang des Eigenen kann ein sehr europäisches Bedauern sein. Das muss es natürlich nicht; aber wenn es ein solches Bedauern gibt, dann wäre eine Angleichung an die poetische Übung des Westens schon vollzogen. Es müsste nur noch ein gewisser Selbsthass hinzutreten (der Gedanke des selbstverschuldeten Untergangs oder des Unrechts an anderen), dann wäre das psychologische Set vollendet, aus dem in Europa seit drei Jahrhunderten Literatur produziert wird.

Alles Eigene wird zu einer Metapher des Verlorenen

Manches spricht überhaupt dafür, dass die Globalsierung unserer Tage nur ein Tarnbegriff ist für die sich langsam vollendende Verwestlichung der Welt. Denn die Globalisierung vollzieht sich ja nicht dadurch, dass aus allen Kulturen Elemente zu einer neuen gemeinsamen Weltkultur verschmelzen (aus allen Weltwinkeln auf eine imaginäre Mitte vorrücken), sondern dadurch, dass in allen Ländern nach demselben kapitalistischen Muster Waren produziert und auf einen gemeinsamen Markt geworfen werden, das heißt also der Westen sein Privileg verloren hat oder vielmehr ein höchst zweifelhaftes Privileg allen übrigen Ländern der Welt aufgezwungen hat. Der Westen hat sich selbst die Konkurrenz herangezogen, in der er nun unterzugehen droht.

Die anderen Länder aber haben das Gift geerbt, das nun ihre eigene Kultur langsam zerstören wird. Globalisierung in diesem Sinne würde bedeuten, dass überall in den Literaturen die westlichen Idiosynkrasien4 und Neurosen5 über kurz oder lang zu blühen beginnen werden; und in der ägyptischen Literatur, dem ägyptischen Film sehen wir diese Blüte schon recht deutlich. Die Blüte, zu deren Farben Schwermut, Ironie und Selbstverachtung gehören, muss selbstverständlich dem Westen nicht lächeln; aber wenn sie Hass zeigen sollte, wird er in dem Hass erst recht seinen Spiegel erkennen müssen.

So könnten wir uns eine globalisierte Literatur vorstellen: dass der Westen seinen berechtigten Selbsthass als poetischen Antrieb in die ganze Welt exportiert, so wie er auch seine Wirtschafts- und Lebensmuster überallhin exportiert hat. In den Apartments arabischer Großstädte werden akademisch gebildete Mittelstandsfamilien (zwei Kinder, berufstätige Frau) alle Neurosen reproduzieren, aus denen sich die deutsche Literatur nährt. Oder sollte die moderne arabische Literatur aus Zelten nomadisierender Wüstenbewohner das ganz Andere noch immer (wenn sie es je getan hat) poetisch formulieren? Viel eher wird die Wüste eine Metapher werden, in der sich die Melancholie6 über das verlorene Eigene ausdrückt.

Aber nehmen wir einmal an (auch wenn es nicht wahrscheinlich ist), dass die Globalisierung nicht als Verlust, sondern als Modernisierungsgewinn erlebt wird und ein großer Jubel über den Fortschritt in einer homogenisierten7 Welt anhebt. Wie sollte sich dieser Jubel literarisch artikulieren? Müssten sich auch Formen und Sprache globalisieren, damit nicht ein Widerspruch auftritt zwischen der begrüßten Weltkultur und der zähen Sondertümelei des angestammten Kulturkreises? Müsste also tatsächlich eine „Weltpoesie“ geschaffen werden, die sich durch leichte Übersetzbarkeit und Allgemeinverständlichkeit in allen Ländern der Welt auszeichnet?

Das hieße: Der Begriff der Weltliteratur würde zu dem Begriff der Weltmarktgängigkeit schrumpfen. Aber gemach! Schon das Material der Poesie, die Sprachen der Völker, trägt den Eigensinn ihrer Kulturen mit sich. Sprachen lassen sich nicht globalisieren. Sie enthalten freilich etwas Universales (sonst wären sie unübersetzbar), aber diese Universalität ist die Universalität des Menschen vor aller Globalisierung der Märkte. Was der Mensch hofft, liebt und hasst, hat nur einen unterschiedlichen Ausdruck in den Kulturen gefunden; die Gedichte aller Völker sind nur Masken ein und derselben Trauer, Freude, Gottessehnsucht. Diese Universalität hat die Poesie aller Völker schon immer formuliert. Diese Weltpoesie haben Hafis und Rumi, Goethe und Heine schon geschrieben.

Entnommen aus:
http://www.zeit.de/archiv/2000/39/200039_globalisierung.xml [2]

Anmerkungen:
1 anpassen
2 Metallegierung mit Quecksilber, häufig für Zahnfüllungen verwendet
3 Iberia: 1.Spanische Mittelmeerküste, 2.Antikes Königreich in Kaukasien (heute Ost-Georgien)
4 Idiokrasie oder Idiosynkrasie: Allergie, Überempfindlichkeit; nicht normale, sehr starke Reaktion gegen/auf manche Reize und/oder Stoffe. Ausgeprägter Ekel, Wiederwelle gegen manche Menschen, Tiere, Speisen. In diesem Zusammenhang: Selbstekel.
5 Psychische Störung
6 Traurigkeit
7 einheitlich, gleichartig


Analyse:

Der Artikel „Selbsthass des Westens“ (Der Markt kennt keine Weltpoesie, aber globalisierte Neurosen) von Jens Jessen behandelt die Frage, wie sich die Globalisierung auf die Dichtung auswirken wird.

Jens Jessen legt zunächst einmal dar, ob und wie (nationale) Literatur von der Globalisierung exogen beeinflusst wurde. Dabei betont er, dass Literatur von je her kultur- und epochenübergreifend war. Die deutsche Literatur sei z.B. durch arabische und iranische Strömungen, aber auch durch die Renaissance der altgriechischen Philosophie im Mittelalter verändert und novelliert. Literatur sei also schon immer globalisiert gewesen, als Beispiel nennt er einen modernen Lyriker, der sich von fremden Kulturen inspirieren lässt. Das Resultat dieser „Verschmelzung“ sei Subjektivität und der Aufnahme von fremden Impressionen aus dem Blickwinkel der eigenen „unhintergehbaren“ Kultur, d.h. es entstehen unweigerlich Missverständnisse. Es ist zu vermuten, dass der Autor diese Form der „Weltpoesie“ daher eher kritisch sieht.

Im dritten Abschnitt versucht er die literarische Globalisierung mit der Kolonialisierung zu vergleichen, bzw. Parallelen mit einem Kolonialisierungsmuster zu ziehen. Kennzeichen der Kolonialisierung seien Ausbeutung von Fremdkulturen und deren letztendliche Zerstörung oder Verdrängung, erst danach trete ein Schuldbewusstsein auf. Als typisch europäische Reaktion deutet Jessen daher diese, mit dem Schuldbewusstsein auftretende Eigenheiten wie Selbsthass, Bedauern und Unbehagen über die eigene Kultur. Für die Literatur heiße dies, dass dieses westliche Schema und seine Eigenheiten auf fremde Kulturen transportiert werden. Es entstehe daher eine andere Sichtweise und ein zuvor nicht ausgeprägter Selbsthass auch in anderen Kulturen würde entstehen, so dass z.B. die Frage nach dem Untergang der eigenen Kultur auch für nicht-westliche Zivilisationen als selbst- oder fremdverschuldet ins Bewusstsein rückt. Selbsthass sei die Grundlage für die letzten drei Jahrhunderte westlicher Literatur, demnach würde sich mit der Durchdringung von Selbsthass (Idiosynkrasie und Neurose) anderen Kulturen, was er später als „Gift“ bezeichnet, auch dort ein westlicher Literaturstil bilden.

Überleitend mit „Alles Eigene wird zu einer Metapher des Verlorenen“ schmückt Jessen dies im zweiten Teil seines Artikels mit dem Beispiel der Wüste aus. Folgerichtig zu seinem gewählten Bild der Kolonialisierung unterstellt der Autor, dass es keine Globalisierung im Sinne von Verschmelzung zu einer Weltkultur gebe, sondern viel mehr eine „Verwestlichung“. Dadurch ergibt sich im Stil der Kolonialisierung eine Verdrängung und weites gehende Ausrottung fremder Kulturen und eine Transferierung von westlichen Gedankengut. Darunter sei auch und insbesondere das vormalige Previleg der kapitalistischen Warenproduktion zu verstehen. Durch die Verwestlichung entstehe Konkurrenz, was Jessen als Ursache für den Untergang des Westens prophezeit. Der Untergang, so beschreibt der Autor, seien von Idiosynkrasie und Neurosen „vergiftete“ Staaten. Etwas stichelnd sagt der Autor, dass der Westen zwar nicht seine eigenen Eigenheiten (Idiosynkrasie und Neurose) zu erwarten habe, aber einen Spiegel vorgehalten bekomme. Der Westen würde daher salopp gesagt zu seinem eigenen Untergang.

Das „Gift“ des Westens (Schwermut, Ironie und Selbstverachtung etc.) führe dazu, dass die Literaten z.B. ganz eigene, an ihre Geografie gebundene Metaphern für Melancholie entwickeln könnten, hier erwähnt der Autor die bereits genannte Wüste.

Am Schluss stellt Jessen die Frage, ob die Entstehung einer Weltliteratur nicht auch mit dem Zwang und der Notwendigkeit einher ginge, leichte Übersetzbarkeit und Allgemeinverständlichkeit zu schaffen. Dies wäre dem Autor zufolge gleichbedeutend mit dem Austausch einer Weltliteratur mit einer „Weltmarktgängigkeit“. Jedoch ist nach Jessen die Literatur bereits globalisiert und auch die Menschen waren schon vor der Globalisierung „universal“, da Texte sonst unübersetzbar wären. Verschiedene Gemütszustände finden z.B. über kulturspezifische Metaphern Ausdruck, ihre Äquivalente sind daher unterschiedlich.

Bei Jessen wird eine gewisse Abneigung oder antiwestliche Haltung erkennbar. Dies verdeutlichen einige Seitenhiebe, wenn er z.B. davon spricht, dass der Selbsthass des Westens berechtigt sei. Er befürchtet eine Expansion, eine Verdrängung und Durchdringung des Westens und seiner negativ anhaftenden Eigenschaften in andere Kulturen. Man kann ihn aber aufgrund dessen keine generelle Globalisierungskritik unterstellen, sondern lediglich die Kritik an einer Verwestlichung. Über die Literatur sagt Jessen, dass sie bereits global sei, aber es nicht erwünschenswert sei ihre kulturellen Eigenheiten und spezifischen Metaphern für eine „Weltmarktgängigkeit“ einzutauschen. Der Artikel bleibt hauptsächlich auf einer hypothetischen und spekulativen Ebene, da er bis auf einige spärliche Beispiele keine Belege für seine Thesen anführt. Daher hat der Text eher den Charakter eines Essays, als einer wissenschaftlichen Abhandlung.



Weblinks:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Octavio_Paz
[2] http://www.zeit.de/archiv/2000/39/200039_globalisierung.xml