„Selbsthass des Westens – Der Markt kennt keine Weltpoesie, aber globalisierte Neurosen“ – Jens Jessen (Analyse und Interpretation)
Hinweis: Die nachfolgende Analyse bezieht sich auf den Artikel Selbsthass des Westens (Der Markt kennt keine Weltpoesie, aber globalisierte Neurosen) von Journalist Jens Jessen. Der Artikel wurde am 21.09.2000 in DIE ZEIT veröffentlicht.
Der Artikel „Selbsthass des Westens“ (Der Markt kennt keine Weltpoesie, aber globalisierte Neurosen) von Jens Jessen behandelt die Frage, wie sich die Globalisierung auf die Dichtung auswirken wird.
Jens Jessen legt zunächst einmal dar, ob und wie (nationale) Literatur von der Globalisierung exogen beeinflusst wurde. Dabei betont er, dass Literatur von je her kultur- und epochenübergreifend war. Die deutsche Literatur sei z.B. durch arabische und iranische Strömungen, aber auch durch die Renaissance der altgriechischen Philosophie im Mittelalter verändert und novelliert. Literatur sei also schon immer globalisiert gewesen, als Beispiel nennt er einen modernen Lyriker, der sich von fremden Kulturen inspirieren lässt. Das Resultat dieser „Verschmelzung“ sei Subjektivität und der Aufnahme von fremden Impressionen aus dem Blickwinkel der eigenen „unhintergehbaren“ Kultur, d.h. es entstehen unweigerlich Missverständnisse. Es ist zu vermuten, dass der Autor diese Form der „Weltpoesie“ daher eher kritisch sieht.
Im dritten Abschnitt versucht er die literarische Globalisierung mit der Kolonialisierung zu vergleichen, bzw. Parallelen mit einem Kolonialisierungsmuster zu ziehen. Kennzeichen der Kolonialisierung seien Ausbeutung von Fremdkulturen und deren letztendliche Zerstörung oder Verdrängung, erst danach trete ein Schuldbewusstsein auf. Als typisch europäische Reaktion deutet Jessen daher diese, mit dem Schuldbewusstsein auftretende Eigenheiten wie Selbsthass, Bedauern und Unbehagen über die eigene Kultur. Für die Literatur heiße dies, dass dieses westliche Schema und seine Eigenheiten auf fremde Kulturen transportiert werden. Es entstehe daher eine andere Sichtweise und ein zuvor nicht ausgeprägter Selbsthass auch in anderen Kulturen würde entstehen, so dass z.B. die Frage nach dem Untergang der eigenen Kultur auch für nicht-westliche Zivilisationen als selbst- oder fremdverschuldet ins Bewusstsein rückt. Selbsthass sei die Grundlage für die letzten drei Jahrhunderte westlicher Literatur, demnach würde sich mit der Durchdringung von Selbsthass (Idiosynkrasie und Neurose) anderen Kulturen, was er später als „Gift“ bezeichnet, auch dort ein westlicher Literaturstil bilden.
Überleitend mit „Alles Eigene wird zu einer Metapher des Verlorenen“ schmückt Jessen dies im zweiten Teil seines Artikels mit dem Beispiel der Wüste aus. Folgerichtig zu seinem gewählten Bild der Kolonialisierung unterstellt der Autor, dass es keine Globalisierung im Sinne von Verschmelzung zu einer Weltkultur gebe, sondern viel mehr eine „Verwestlichung“. Dadurch ergibt sich im Stil der Kolonialisierung eine Verdrängung und weites gehende Ausrottung fremder Kulturen und eine Transferierung von westlichen Gedankengut. Darunter sei auch und insbesondere das vormalige Privileg der kapitalistischen Warenproduktion zu verstehen. Durch die Verwestlichung entstehe Konkurrenz, was Jessen als Ursache für den Untergang des Westens prophezeit. Der Untergang, so beschreibt der Autor, seien von Idiosynkrasie und Neurosen „vergiftete“ Staaten. Etwas stichelnd sagt der Autor, dass der Westen zwar nicht seine eigenen Eigenheiten (Idiosynkrasie und Neurose) zu erwarten habe, aber einen Spiegel vorgehalten bekomme. Der Westen würde daher salopp gesagt zu seinem eigenen Untergang.
Das „Gift“ des Westens (Schwermut, Ironie und Selbstverachtung etc.) führe dazu, dass die Literaten z.B. ganz eigene, an ihre Geografie gebundene Metaphern für Melancholie entwickeln könnten, hier erwähnt der Autor die bereits genannte Wüste.
Am Schluss stellt Jessen die Frage, ob die Entstehung einer Weltliteratur nicht auch mit dem Zwang und der Notwendigkeit einherginge, leichte Übersetzbarkeit und Allgemeinverständlichkeit zu schaffen. Dies wäre dem Autor zufolge gleichbedeutend mit dem Austausch einer Weltliteratur mit einer „Weltmarktgängigkeit“. Jedoch ist nach Jessen die Literatur bereits globalisiert und auch die Menschen waren schon vor der Globalisierung „universal“, da Texte sonst unübersetzbar wären. Verschiedene Gemütszustände finden z.B. über kulturspezifische Metaphern Ausdruck, ihre Äquivalente sind daher unterschiedlich.
Bei Jessen wird eine gewisse Abneigung oder antiwestliche Haltung erkennbar. Dies verdeutlichen einige Seitenhiebe, wenn er z.B. davon spricht, dass der Selbsthass des Westens berechtigt sei. Er befürchtet eine Expansion, eine Verdrängung und Durchdringung des Westens und seiner negativ anhaftenden Eigenschaften in andere Kulturen. Man kann ihn aber aufgrund dessen keine generelle Globalisierungskritik unterstellen, sondern lediglich die Kritik an einer Verwestlichung. Über die Literatur sagt Jessen, dass sie bereits global sei, aber es nicht wünschenswert sei ihre kulturellen Eigenheiten und spezifischen Metaphern für eine „Weltmarktgängigkeit“ einzutauschen. Der Artikel bleibt hauptsächlich auf einer hypothetischen und spekulativen Ebene, da er bis auf einige spärliche Beispiele keine Belege für seine Thesen anführt. Daher hat der Text eher den Charakter eines Essays, als einer wissenschaftlichen Abhandlung.