Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Erich Kästners Gedicht „Herbst auf der ganzen Linie“ handelt ebenso wie das (spät-)romantische Gedicht „Der Herbstwind rüttelt die Bäume“ von Heinrich Heine, über den Herbst. Erich Kästners Werk besteht aus 9 Strophen mit jeweils 4 Versen, verfasst in einem Wechsel- oder Kreuzreim (abab), während das Gedicht von Heinrich Heine mit 5 Strophen, die ebenfalls jeweils 4 Verse haben mit dem Reimschema abcb, und ist damit nur ungefähr halb so lang. Beide Gedichte haben also eine ganz traditionelle Form.
Erich Kästner ist epochal in die Lyrik der „Neuen Sachlichkeit“ einzuordnen. Die neue Sachlichkeit ist ein Bindeglied zwischen dem Expressionismus (1910-1925) und den darauffolgenden Epochen Surrealismus (1917-1945) und Dadaismus (1915-1925). Die Neue Sachlichkeit hat sehr viele Gemeinsamkeiten mit dem Expressionismus, versucht sich allerdings ihrem Pathos zu lösen und dafür sachlich und realistisch zu bleiben. Ihre Werke waren demnach häufig kühl und distanziert. Ein zentrales Mittel dieser Epoche war die sogenannte „Gebrauchslyrik“. Die Gebrauchslyrik versucht häufig, auf ein (gesellschaftliches) Problem hinzuweisen. Demzufolge zielt die Gebrauchslyrik auf Verständlichkeit ab und ist in der Regel sehr einfach zu verstehen. Für die bessere Verständlichkeit werden häufig Metaphern1 verwendet.
Erich Kästner war durch seine Gebrauchslyrik einer der größten Lyriker der Neuen Sachlichkeit. Wesentliche Elemente dieser Epoche werden wir auch in diesem Gedicht wiederfinden.
Dadurch, dass Erich Kästners Gedicht „Herbst auf der ganzen Linie“ sehr leicht zu verstehen ist, möchte ich nur sehr kurz auf die Inhaltsbeschreibung eingehen.
Im wesentlichen wird von dem Ich-Sprecher die herbstliche Umwelt beschrieben, z. B. das Fallen der Laubblätter oder Wind, sowie die Gefühle des Sprechers, der in dem herbstlichen Ambiente an die Vergänglichkeit des Individuums, der Gesellschaft und seine Einsamkeit erinnert wird. Der Titel des Gedichtes trifft exakt auf den Inhalt von Erich Kästners Gedicht zu. Das lyrische Ich in seinem Gedicht bleibt stets emotional unterkühlt, wirkt frustriert oder bestenfalls apathisch2 desinteressiert. Der Herbst der Natur hat auch einen emotionalen Herbst bei dem lyrischen Ich ausgelöst.
Infolge dessen sieht das Ich nur noch die Vergänglichkeit des Menschen, wie das Leben an ihnen vorbeizieht, wie sie ihr Leben mit Trivialitäten3 (V. 11f: „Man nimmt den Magen an die Leine. Er knurrt. Er will gefüttert werden.“) und Schein (V. 7f: „Und was man tut, sind selten Taten. Das, was man tut, ist Tuerei.“, V. 9f: „Es ist, als ob die Sonne scheine. Sie läßt uns kalt. Sie scheint zum Schein.“) verschwenden. An verschiedenen Textstellen geht der Beobachter immer wieder auf die Vergänglichkeit ein ("Das Jahr vergeht in Monatsraten. Es ist schon fast wieder vorbei"). Ericht Kästner arbeitet – typisch für die Gebrauchslyrik – sehr viel mit Metaphern (V. 2: „Die bunten Laubgardinen wehn.“, V. 19: „Die Straßen ähneln Korridoren, in denen Türen offenstehn.“ – Letzteres soll wahrscheinlich andeuten, dass der Wind durch die Straßen zieht, dass es also windig ist, als wenn jemand die Tür offen stehen lässt) und Personifikationen4 (V. 13f: „Das Laub verschießt, wird immer gelber, nimmt Abschied vom Geäst und sinkt.“, V. 15: „Die Erde dreht sich um sich selber.“).
Noch auffällig sind die zwischenzeitlich scherzhaft wirkenden Bemerkungen des Sprechers, z. B. „Die Erde dreht sich um sich selber. Man merkt es deutlich, wenn man trinkt.“ (V. 15f) oder „Und was man tut, sind selten Taten. Das, was man tut, ist Tuerei.“ (V. 7f). Das Gedicht hat an diesen Stellen eine durchaus humoristische Komponente, in denen sich Erich Kästner scherzhafter Dichtung betätigt hat.
Heinrich Heine hingegen war ein naturalistischer und romantischer Dichter, aber auch ein Dichter des Vormärzes/Biedermeier. Dieses vorliegende Gedicht enthält typische Aspekte der Romantik oder besser gesagt der Spätromantik. Das Gedicht „Der Herbstwind rüttel die Bäume“ erschien in dem Gedichtband „Lyrisches Intermezzo“ aus dem Jahre 1822/1823, dies passt zeitlich sehr gut in die Spätromantik (ca. 1815-1830).
Das lyrisch Ich in diesem Werk ist ein Reiter, der durch die kalte und nasse Herbstnacht sehnsüchtig zu einer Frau den Burgturm hinaufreitet. Plötzlich nimmt die Handlung am Ende des Gedichtes aber eine Wendung, denn das lyrische Ich wacht aus einem (Tag-)Traum auf und muss erkennen, dass alles nur Illusion war.
Wiederum typisch spätromantisch ist zum einen der Traum, der ein zentrales Motiv in allen Abschnitten der Romantik darstellte, so wie das abrupte und überraschende Ende, da auch Ironie und plötzliche Wendungen in der Spätromantik üblich waren. Zudem wurde in der Spätromantik zunehmend das Mittelalter idealisiert und verherrlicht, dessen Motiv wir in diesem Gedicht durch die Wendeltreppe des Burgturms (V. 11), dem Burgfräulein (V. 15), dem Sporengeklirr (V. 12), sowie dem Reiter selbst wiedererkennen können.
Zum Vergleich der beiden Gedichte möchte ich als Begriff die „emotionale Spannungskurve“ einführen. In dem Gedicht von Erich Kästner bleibt diese Spannungskurve durchgehend auf niedrigem Niveau. In dem Gedicht von Heinrich Heine verläuft die emotionale Spannungskurve aber ganz anders. Sie ist zunächst am Boden. Dann fangen dem Sprecher an die Gedanken zu entgleiten, er beginnt zu träumen (V. 5ff: „Und wie ich reite, so reiten Mir die Gedanken voraus; Sie tragen mich leicht und luftig Nach meiner Liebsten Haus.“). Der Leser fiebert dem Zusammentreffen des Sprechers mit der „Holden“ entgegen. Die Spannungskurve steigt also rasch an. Auf dem Höhepunkt bricht der Sprecher jedoch ab und lässt den Leser praktisch fallen: Der Sprecher ist einsam, nur noch die Eiche im Wald spricht zu ihm (Personifikation) und er muss erkennen, dass er töricht war, an seine (möglicherweise fiktive5) Geliebte zu denken. Ebenso töricht war aber auch seine „Ritter-Inszenierung“. Die Spannungskurve fällt also am Ende in sich zusammen.
Ich möchte auch noch kurz die Rolle der Frauen in diesem Gedicht erwähnen. Zwar sind die Themen der beiden Gedichte gleich, da sie vordergründig vom Herbst handeln, hintergründig schwingt aber auch etwas Liebesdichtung mit. Bei Heinrich Heine jedoch deutlich stärker als bei Erich Kästner. Bei Heinrich Heine ist der Sprecher entweder unglücklich verliebt und sucht Frauengesellschaft oder er ist von seiner Geliebten anderweitig getrennt. Bei Erich Kästner hat der Sprecher seine letzte Beziehung ganz eindeutig schon lange hinter sich. Dennoch hat er sie nicht vergessen (V. 29ff: „Man ist allein und wird es bleiben. Ruth ist verreist, und der Verkehr beschränkt sich bloß aufs Briefeschreiben. Die Liebe ist schon lange her!“). In beiden Gedichten wird es sich höchster Wahrscheinlichkeit nach um männliche Sprecher handeln.