Gedichtinterpretation: Else Lasker-Schüler – Weltende (Expressionismus)

Else Lasker-Schüler 1869-1945

1 Es ist ein Weinen in der Welt,
2 Als ob der liebe Gott gestorben wär,
3 Und der bleierne Schatten, der niederfällt,
4 Lastet grabesschwer.

5 Komm, wir wollen uns näher verbergen…
6 Das Leben liegt in aller Herzen
7 Wie in Särgen.

8 Du! wir wollen uns tief küssen -
9 Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,
10 An der wir sterben müssen.


Analyse und Interpretation:

Das Gedicht „Weltende“ von Else (Elisabeth) Lasker-Schüler erschien in seiner heute bekannten Form erstmal 1905 in dem Gedichtband „Der siebente Tag“. Das Gedicht wird in der Regel der expressionistischen Literaturepoche zugerechnet. Das dies allerdings schon historisch nicht gerechtfertigt ist, lässt sich den Jahreszahlen ablesen: Die erste Veröffentlichung von Lasker-Schülers „Weltende“ war 1903, der Beginn des Expressionismus wird aber ungefähr auf das Jahr 1910 datiert. Genauer genommen wird das gleichnamige Gedicht „Weltende [1]“ von Jakob van Hoddis [2] aus dem Jahre 1911 als „Startschuss“ für den Expressionismus betrachtet. Jakob van Hoddis hat mit seinem „Weltende“ große Berühmtheit erlangt und wurde gar als Pionier des Expressionismus bezeichnet. Von diesem Ruhm konnte das Gedicht von Else Lasker-Schüler aufgrund der Namensgleichheit später profitieren, so dass auch ihr „Weltende“ noch sehr berühmt wurde.

Des weiteren spricht dafür, dass Else Lasker-Schülers „Weltende“ zu Unrecht ein expressionistisches Werk sein sollte, dass ihr Gedicht in keinster Weise typisch expressionistische Motive aufweist. Es hat nicht den antibürgerlichen Impetus wie das „Weltende“ van Hoddis, es ist nicht zivilisations- und gesellschaftskritisch, wie beispielsweise Georg Heyms [3] „Der Gott der Stadt [4]“ oder „Umbra Vitae [5]“, genauso wenig wie es den Krieg thematisiert wie Georg Trakls [6] „Grodek [7]“ oder Georg Heyms „Der Krieg [8]“ oder dem Leser die Abscheu vor dem Menschen vor Augen halten will, wie Gottfried Benn [9] in „Nachtcafè [10]“ oder „Schöne Jugend [11]“. Auch die Techniken des Expressionismus, wie der Reihungs- oder Simultanstil1 oder typische Stilmittel wie Synästhesien2, Verfremdungen und die häufig auftauchenden rot-schwarz-blauen Farbkombinationen3 sucht man hier vergebens. Nicht mal ein Sonett4 legt Else Lasker-Schüler uns vor, welches man viel Toleranz als expressionistische Gedichtform titulieren5 könnte. Und nicht zuletzt ragt sie auch als einzige Frau im Expressionismus in einer bis dahin noch weites gehend von Männern dominierten Dichtkunst heraus.

Einzig und allein der Schwermut und die apokalyptische Stimmung, die in diesem Gedicht mitschwingt, scheint eine Einordnung in den Expressionismus zu bestärken und die Tatsache, dass man vor dem Dilemma steht, dass Else Lasker-Schülers „Weltende“ auch in keiner der anderen damaligen Literaturepochen wie dem Naturalismus [12] (1880-1900), Symbolismus [13] (1890-1910) oder Wiener Impressionismus [14] (1890-1910) richtig aufgehoben zu sein scheint. „Weltende“ hängt also sozusagen in der Schwebe und aus lauter Verzweiflung lässt man es als „prä-expressionistisches“ Gedicht passieren.

Aber womit haben wir dann hier eigentlich zutun?

1.Interpretationsmöglichkeit

Das Gedicht „Weltende“ besteht aus 10 Versen. Einem Quartett und zwei aufeinanderfolgende Terzetten. In der ersten Strophe liegt ein Wechselreim (abab) vor, in der zweiten und dritten Strophe ein umarmende Reim (cdc, efe), wobei der von zwei Reimen eingeschlossene zweite Vers der beiden Strophen keinen passenden Reimpartner hat. „Herzen“ (Z.7) und „Welt“ (Z.9) bleiben damit ohne Reim.

In der ersten Strophe schildert der Sprecher ein „Weinen“ das in der Welt läge, „als ob der liebe Gott gestorben wäre“. Hier ist eine Parallele zu dem in der Bibel beschriebenen Wehklagen der Israeliten, als ihr heiliger Tempel von römischen Eroberern zerstört wird (siehe Lukas 19, 41-47). Else Lasker-Schüler war zwar eine deutsche Schriftstellerin, hatte jedoch eine jüdische Konfession. Das lyrische Ich hat offenbar Zweifel an Gott, zumindestens lassen die chaotischen Umstände dessen Existenz zweifelhaft erscheinen. Gott bleibt damit für das Ich und für die Menschen unerreichbar.
Im dritten und vierten Vers beschreibt dann den „bleiernen“ Schatten, der niederfällt. „Bleiern“ unterstreicht die „grabesschwere“ Last, die auf der Welt lastet. Auf den ersten Blick mag man mit dem „bleiernen Schatten“ vielleicht die Bomber aus dem zweiten Weltkrieg assoziieren, man muss sich allerdings vergegenwärtigen, dass 1903, bei der Erstveröffentlichung es Gedichtes, die Luftfahrt noch in den primitiven Kinderschuhen steckte.
Zweite und dritte Strophe schildern dann im Gegensatz zur ersten Strophe, wie sich der Weltuntergang auf die Menschen und speziell auf das lyrische Ich auswirkt. Der nahende Weltuntergang fördert eine Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit hervor. Diese Suche nach Geborgenheit könnte vielleicht sogar ein inniger Ausdruck von Liebe sein. Dennoch können menschliche Zuneigung und Gottessehnsucht den Weltuntergang nicht verhindert, er ist final und aufhaltsam, so dass sich das Ich schließlich resigniert dessen Unausweichlichkeit anerkennt (Z.10: „An der wir sterben müssen“, Z.6f: „Das Leben liegt in aller Herzen wie in Särgen“).
Die Schilderungen des Sprecher oder der Sprecherin sind durchweg subjektiv. Zur Unterstreichung der Empfindungen bedient sich der Sprecher einer sehr metaphorischen-ästhetischen, aber auch recht düsteren Sprache (Z.3f, 6f).

Verglichen mit dem Weltende von Jakob van Hoddis, spielt Lasker-Schüler nicht auf den Umsturz des (Spieß-)Bürgertums an oder wie Georg Heym, auf den drohenden Krieg. „Weltende“ von Lasker-Schüler ist raum- und zeitlos, es hat keinen historischen Bezug zu derlei revolutionären und umstürzenden expressionistischen Grundideen.

2.Interpretationsmöglichkeit

Eine weiterer Interpretationsstrang, fernab von der Apokylpse im wortwörtlichen Sinne, ist die Möglichkeit, dass lyrische Ich dieses Gedichts vielmehr eine einen persönlichen Weltuntergang erlebt.
Else Lasker-Schüler galt als exzentrisch, selbstverliebt und übertrieben und so erscheint es stringent, wenn man Lasker-Schüler unterstellt, sie würde mit diesem Gedicht das Mitleid der Rest der Welt auf sich ziehen wollen oder dass andere gar an ihrem Schicksal teilhaben müssten.
Das lyrische Ich hat in diesem Gedicht eine sehr naive Sichtweise über seinen eigenen Standpunkt in der Welt, was durch Verse wie „Es ist ein Weinen in der Welt, Als ob der liebe Gott gestorben wär“ bezeugt wird. Das lyrische Ich steckt in einer persönlichen Krise, es sucht Nähe und Zuneigung und malt düstere Untergangsstimmung. Dabei ist das Ich jedoch egozentrisch, selbstmitleidend, übertreibend und mit seiner/ihrer Todessehnsucht derartig vereinnahmend, dass man annehmen könnte, es stände ein globaler Weltuntergang bevor. In Wirklichkeit handelt es sich aber um ein unwichtiges Einzelschicksal, dessen Gefühle die Wahrnehmung verzerren und die Welt bloß in tiefer Traurigkeit erscheinen lässt.


Anmerkungen:
1 Beim Reihungs- oder Simultanstil bildet der Autor kurze zusammenhanglose Verse oder Metaphern. Als Beispiel siehe „Weltende [1]“ von Jakob van Hoddis und „Die Dämmerung [15]“ von Alfred Lichtenstein.
2 Synästhesie (Stilmittel): Verbindung unterschiedlicher Sinneseindrücke. Beispiel: „Sehe mit fühlendem Auge“.
3 schwarz, rot und blau gelten als typisch expressionistische Farben. Während rot und schwarz fast immer in negativen Zusammenhängen benutzt werden (z.B. Blut, Tod, Untergang), steht ihnen noch die Farbe blau als Sehnsuchtsmetapher gegenüber.
4 Ein Sonett besteht aus zwei Quartetten (zwei Strophen mit jeweils vier Versen) und zwei Terzetten (zwei Strophen mit jeweils drei Versen). Das Sonett ist eine Gedichtform, die häufiger im Expressionismus zu beobachten ist. Zwischen den Quartetten und Terzetten gibt es meist einen inhaltlichen Einschnitt.
5 bezeichnen, benennen



Weblinks:
[1] http://www.antikoerperchen.de/material/16/gedichtinterpretation-jakob-van-hoddis-weltende-expressionismus.html
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_van_Hoddis
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Heym
[4] http://www.antikoerperchen.de/material/7/gedichtinterpretation-georg-heym-der-gott-der-stadt-expressionismus.html
[5] http://www.antikoerperchen.de/material/21/gedichtinterpretation-georg-heym-die-menschen-stehen-vorwaerts-in-den-strassen-umbra-vitae-expressionismus.html
[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Trakl
[7] http://www.antikoerperchen.de/material/18/gedichtinterpretation-georg-trakl-grodek-expressionismus.html
[8] http://www.antikoerperchen.de/material/15/gedichtinterpretation-georg-heym-der-krieg-expressionismus.html
[9] http://de.wikipedia.org/wiki/Gottfried_Benn
[10] http://www.antikoerperchen.de/material/8/gedichtinterpretation-gottfried-benn-nachtcafe-expressionismus.html
[11] http://www.antikoerperchen.de/material/10/gedichtinterpretation-gottfried-benn-schoene-jugend-expressionismus.html
[12] http://de.wikipedia.org/wiki/Naturalismus
[13] http://de.wikipedia.org/wiki/Symbolismus_%28Literatur%29
[14] http://de.wikipedia.org/wiki/Impressionismus
[15] http://www.antikoerperchen.de/material/13/gedichtinterpretation-alfred-lichtenstein-die-daemmerung-expressionismus.html