Gedichtinterpretation: Roman Ritter – Das Bürofenster (Neue Subjektivität/Alltagslyrik)

Roman Ritter 1943-?

Analyse und Interpretation:

Das Gedicht „Das Bürofenster“ von Roman Ritter erschien 1978. Es gehört daher zu einer Epoche, die man heute als „Alltagslyrik“ oder Lyrik der „Neuen Subjektivität“ bezeichnet. Diese Art der Lyrik tritt besonders in den 70er-Jahren auf.

Die oberste Maxime der „Neuen Subjektivität“ war es, die subjektive Wahrnehmung und das Ich in den Vordergrund zu stellen und sich dabei jeglichen traditionellen Stilmittel zu entledigen, um Momentaufnahmen von Alltagssituationen zu beschreiben. Das heißt also, dass Stilmittel wie (traditionelle) Metaphern oder Symbole über Board geworfen wurden, ebenso sollte die starre äußere Form von Metrum und Reimschema „gesprengt“ werden. Lyrik wurde „entfesselt“ und sollte sich „frei machen“ von alten Konventionen, um möglichst direkt und unmittelbar alltägliche Situationen zu beschreiben. Mystifizierung, Rätselei, Chiffrierung, Poetisierung und Künstelei waren in dieser jungen Epoche verpönt. Thematisch befasste sich die „Neue Subjektivität“ -wie bereits angedeutet- mit Alltagssituationen. Diese Situationen sollten immer nur eine Momentaufnahme darstellen, sie sollten die Gefühle und Empfindungen des Sprechers in seinem gewöhnlichen Alltag beschreiben. Je nach Sensibilität des Sprechers konnten diese Beschreibungen auch in sehr minutiösen Beschreibungen münden.

Dass man sich von den traditionellen Gedichtformen und Stilmitteln trennte, heißt jedoch nicht, dass es in der „Neuen Subjektivität“ überhaupt kein äußere Form mehr gibt. Viel mehr bekommen die Autoren dieser Epoche mit der äußeren Form ein Werkzeug, mit dem sie spielerisch umgehen können, das sie mit Zeileneinschüben, Umbrüchen, Groß- und Kleinschreibung und Absätzen versehen konnten, wie es ihnen beliebte. Man kann fast sagen, dass Gedichte der „Neuen Lyrik“ nur sehr kurze Prosatexte sind, die durch Zeilenumbrüche dem äußeren Erscheinungsbildes eines Gedichtes angepasst werden (siehe dazu auch das Gedicht „Zeilenbruch und Wortsalat [1]“, ebenfalls von Roman Ritter). Mit dieser „neuen“ Flexibilität der äußeren Form war es den Autoren nun möglich, z.B. die Empfindungen des Sprechers optisch zu unterstreichen und so auch das Leseverhalten des Lesers zu beeinflussen.

Von Letzterem macht Roman Ritter auch in seinem Gedicht „Das Bürofenster“ Gebrauch, darauf möchte ich jedoch später eingehen.
Zunächst einmal haben wir gesehen, dass die Gedichte aus der „Neuen Subjektivität“ dem Leser stilistisch wenige „Stolperstein“ in den Interpretationsweg und damit vielleicht auch weniger Ansprüche stellen. Die Gedichte sind rhetorisch recht simpel und, passend zur Thematik, weites gehend alltagssprachlich. Es ist auch nicht die Intention der Autoren, die dieser Gattung angehören, dass der Leser sich für die Erschließung des Textes ausführliche Gedanken über die verwendeten Stilmittel machen muss. Daher möchte ich auf die eher zufällig auftretenden stilistischen Mittel in diesem Gedicht auch nicht weiter eingehen, sondern begnüge mich mit einer Inhaltsbeschreibung und eine Darstellung über die Gefühle des Ichs.

Formal ist das Gedicht in 7 Strophen unterschiedlicher Länge mit unterschiedlicher Verszahl eingeteilt. Es gibt kein Reimschema und kein festes Metrum.

„Das Bürofenster“ beschreibt das lyrische Ich an seinem Arbeitsplatz im Büro. Der Sprecher wendet sich von seinem Bürotisch ab, schaut aus dem Fenster und beschreibt was er sieht (Z.3ff: „Kastanienäste“, „ein Stück Rasen“, Büsche, „und den Stamm einer Linde“). Was hier noch nicht so deutlich wird ist, dass das Büro als sehr trist, steril, monoton und kalt empfunden wird. Das Büro stellt für den Sprecher „Unfreiheit“ und Zwang dar.
In der zweiten Strophe (Z.6 bis Z.13) steht das Ich auf und begibt sich zum Fenster, die Person beginnt nun mit sehr minutiösen Beschreibungen, von dem was er durch sein Bürofenster heraus sehen kann. Die Beschreibung erfasst dabei ausschließlich Schilderungen über die Natur, wie die „Linde“, deren Äste „leicht vom Wind bewegt“ werden (Z.7f) oder der „Rasen, der so grün ist, dass man beinah lachen muss“ (Z.9f). Der Sprecher empfindet bei seinem Anblick eine Art Glücksgefühl. In der dritten Strophe geht das Ich noch einen Schritt weiter: Es öffnet sein Fenster und will die Natur nicht nur sehen, sondern sie auch spüren und riechen (Z.14f).
Die vierte Strophe schildert, was der Sprecher draußen in der Natur machen könnte, z.B. lesen (Z.19) oder Fußball spielen (Z.23). Da der Sprecher allerdings die Konjunktivform „könnte“ benutzt, scheint den Sprecher irgendetwas davon abzuhalten. In dieser Strophe können wir auch sehen, in welcher Art und Weise Roman Ritter die äußeren Form benutzt, um dem Leser die Empfindungen des Sprechers eindringlicher rüber zu bringen: Der Sprecher beschreibt alles, was er draußen in der Natur machen könnte, in einem eigenständigen Vers. Das lyrische Ich genießt diese Träumerei. Die äußere Form verdeutlicht dies und assoziiert beim Leser ein langes Durchatmen und Innehalten nach jedem Vers.
Stilistisch ist zumindestens zu sehen, dass wir durch die ersten vier Strophen eine Art viergliedrigen Klimax haben, in der das Ich sich in einen träumerischen Zustand hineinsteigert. Die vierte Strophe stellt den emotionalen Höhepunkt dar. Zusätzlich können wir aber auch erkennen, dass das Gedicht zwar nicht in wirklichen Strophen, aber viel mehr in Sinnabschnitten gegliedert ist. Jede einzelne Strophe ist ein logische Einheit, eine Kameraszene und ein zusammenhängendes Motiv.

In der fünften Strophe (Z.24 und Z.25) beendet der Sprecher seinen Tagtraum und wird sich bewußt, dass sein Chef nicht gerne sieht, „wenn man am Fenster steht und hinausschaut“. Darauf geht er zurück an seinen Schreibtisch (Z.26).
In der letzten Strophe (Z.27 bis Z.30) macht das lyrische Ich sich allerdings wieder Hoffnung, denn wenn der Hausmeister Hecken schneidet, kann er sich einige Zweige in die Vase auf den Büroschrank stellen (Z.27ff). Der Sprecher kann also einen Teil der Natur in seine sterile Welt holen. Dennoch scheint das Büro für ihn mehr ein Gefängnis zu sein und das Bürofenster seine „gläsernen Gitterstäbe“, welches er zwar öffnen kann (Z.14), aber dem Ich durch die Arbeit, an dass es gebunden ist, keine tatsächliche Freiheit verschafft.



Weblinks:
[1] http://www.antikoerperchen.de/dateien/roman_ritter-zeilenbruch_und_wortsalat.php