Gedichtinterpretation: Georg Trakl – Grodek (Expressionismus)

Georg Trakl [1] 1887-1914

1 Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
2 Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
3 Und blauen Seen, darüber die Sonne
4 Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht
5 Sterbende Krieger, die wilde Klage
6 Ihrer zerbrochenen Münder.
7 Doch stille sammelt im Weidengrund
8 Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt
9 Das vergoßne Blut sich, mondne Kühle;
10 Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.
11 Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen
12 Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain1,
13 Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter;
14 Und leise tönen im Rohr die dunklen Flöten des Herbstes.
15 O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre
16 Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,
17 Die ungebornen Enkel.

Anmerkungen:
1 Kleinerer Wald


Analyse und Interpretation:

Grodek ist ein real existierender Ort in Ostgalizien (heutige Ukraine) und war im 1.Weltkrieg ein Kriegsschauplatz zwischen verfeindeten russischen und österreichischen Truppen. Trakl selbst wurde als Reservist eingezogen und diente für das österreichische Heer als Medikamentenakzessist1. In vielen Gedichten wird von Schülern der Fehler gemacht, vorschnell den Sprecher mit dem Autor gleichzusetzen, hier allerdings kann man bedenkenlos Trakl als Sprecher dieses Werkes betrachten. Denn Trakl schrieb dieses Gedicht 1914 während der genannten Schlacht zwischen Russen und Österreicher, welche für die Österreicher in einer verheerenden Niederlage endete. Trakl hatte in einer Scheune 90 Schwerverletzte seiner Divison zu versorgen und war mit der Situation so überfordert, dass er zusammen brach. Die medizinische Versorgung war sehr schlecht, so dass Trakl auch mangels Medikamente gar nicht mehr helfen konnte. Anders als heute wurden Operationen und Amputationen auch ohne Narkose, also bei vollem Bewußtsein durchgeführt; die Sterbequote durch Entzündungen und Sepsis2 war auch bei erfolgreichen Operationen sehr hoch. Im Gedicht „Grodek“ verarbeitet nun Trakl seine Weltkriegserfahrung. Grodek blieb Trakls letztes aber auch berühmtestes Gedicht, er verübte schließlich wenige Tage später am 4.November 1914 Selbstmord in einem Feldlazarett in Krakau mit einer Überdosis Kokain (Todesursache: Herzlähmung).

Das Gedicht „Grodek“ ist formal ein einstrophiges Gedicht mit 17 Versen. Es gibt weder ein Reimschema, noch ein durchgängiges Metrum3. Um hier sowas wie einen sprachlich „schönen Klang“ zu erzeugen, benutzt Trakl stattdessen jedoch viele Alliterationen4 und Assonanzen5 („Am Abend“, „Verwesung“ und „Sterne“, „Schmerz“ und „Enkel“).

Trotz des einstrophiges Aufbaus, lässt sich Trakls Werk in drei Sinnabschnitte unterteilen, nämlich von Zeile 1 bis 6, Zeile 7 bis 14 und Zeile 14 bis 17.
Im ersten Abschnitt von Zeile 1 bis 6 ist es Abend. Während des Sonnenuntergangs ist die Schlacht noch nicht endgültig zu Ende, die „herbstlichen Wälder“ immer noch von „tödlichen Waffen tönen“ (Z1f). Dass es sich nicht um „Waffen“, sondern gar um „tödliche Waffen“ (Z.2) handelt, muss eigentlich nicht weiter erwähnt werden, da die Tötungsabsicht die Urintention bei der Erfindung von Waffen schlechthin ist, dennoch verstärkt und unterstreicht Trakl damit die Bedeutung des Wortes „Waffen“. Im zweiten und dritten Vers wird die Szenerie als recht idyllisch geschildert, die Landschaft wirkt durch das Sonnenuntergangslicht golden und die Seen sind blau. Das Trakl hier in seinen idyllischen Schilderung zu poesievoller Verklärtheit und Übertreibung (Hyperbel) neigt, lässt daran erkennen, dass Wasser fast nur im partikelarmen offenen Meer tatsächlich einen bläulichen Schimmer entwickelt. Blaues Wasser wird daher auch häufig klischeehaft mit Karibik, warmen und sonnigen Wetter assoziiert. In Binnenseen hingegen tritt in Wirklichkeit keine Blaufärbung auf. Allein durch den hohen Anteil von Stoffen und Partikel im Wasser kann das Wasser lediglich eine Grünfärbung erreichen, meistens jedoch kennen wir Seen nur mit einer dunkelgrün-dunkelblau-bräunlichen Färbung. Trakl benutzt den Gegensatz zwischen der idyllischen Natur und dem grausamen Kriegsgemetzel, um das eigentliche Geschehen eindringlicher wirken zu lassen. Denn im nachfolgenden „rollt“ die Sonne über den Horizont (Z.4), diese Rollbewegung ist nicht nur optisch sehr stark, sondern assoziiert beim Leser auch eine bedrohliches Geräusch, welches beim rollen überlicherweise auftritt. Die Soldaten befinden sich zu diesem Augenblick im Todeskampf (Z.5f). Trakl reduziert die Soldaten im 6.und später auch im 13.Vers auf ihren Mund und ihren Kopf (Synekdoche6).

Der erste Abschnitt ist damit zu Ende. Während im ersten Teil noch Sonnenuntergang und Abend herrschte, tritt nun mit der Nacht auch die Stille ein. Besonders hervorgehoben wird dieser neue Abschnitt auch durch das Wort „Doch“ im 7.Vers. Im Weidengrund sammelt sich nun das Blut der gefallenen Soldaten (Z.7ff) und das „rote Gewölk“ in der ein „zürnender Gott wohnt“. Es ist anzunehmen, dass hiermit der römische Kriegsgott „Mars“ gemeint ist (in der griechischen Mythologie als Ares bezeichnet). Die Farbe rot ist typisch für den Marsgott, die er von dem roten Planeten Mars erhalten hat. Mars ist allerdings nicht nur ein Kriegsgott, sondern auch der Gott der Toten und der Unterwelt. Mit der hereinbrechenden Kälte („mondne Kühle“, Z.9) nimmt Mars nun die gefallenen Soldaten in seine Unterwelt auf. Etwas verwirrend ist die Satzkonstruktion Trakls von Vers 7 bis einschließlich 9. Vers 8 scheint die beiden eigentlich zusammengehörigen Vers 7 und 9 auseinander zu reißen, so dass es eigentlich „Doch stille sammelt sich im Weidengrund das vergossene Blut“ lauten müsste; man kann hier also von einer Art „Hyperbaton7“ sprechen. Vers 7 und 9 wiederum beinhalten zusätzlich eine Umstellung des Satzbaus (Inversion), das Wort „sich“ müsste korrekterweise nach dem Verb „sammelt“ folgen.
Im 10.Vers beschreibt Trakl, dass „Alle Straßen“ in „schwarzer Verwesung münden“ würden. Damit wird zum einen das Ausmaß dieser Schlacht deutlich, zum anderen aber auch, dass es für Trakl keinen Ausweg gibt; letztlich bleibt als einzige Option nur den Tod zu wählen. Im 12.Vers begibt sich Trakl auf eine trandenszentale8 Ebene. Der „Schwester Schatten schwankt durch den schweigenden Hain zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter“. Auffällig ist hier ran die Untermalung mit den geheimnisvoll klingenden „sch“-Lauten („Schwester“, „Schatten“, „schwankt“, „schweigenden“). Hier ist es Zeit, wieder zwischen dem Berliner und Wiener Expressionismus zu unterscheiden. Der Berliner Expressionismus negiert9 die Existenz eines (gutmütigen) Gottes, hier bei Trakl allerdings werden die Toten durch den „Schwester Schatten“ vor ihren Übergang ins Totenreich gegrüßt, sie erhalten damit vielleicht eine Art Segen und letzte Genugtuung durch eine ihnen nahestehenden Person. Der „Schwester Schatten“ könnte allerdings auch das Schattenreich, den Hades symbolisieren. Das Trakl seine gefallenen Kameraden als „Helden“ tituliert, spricht auch für einen gewissen Respekt und Achtung. Währenddessen „tönen im Rohr leise die dunklen Flöten des Herbstes“, in der Tat wurden und werden auch heute noch Flöten, wie die Panflöte oder auch Orgeln aus Schilfrohr hergestellt.

Der letzte Abschnitt beginnt mit einer Interjektion10 („O“) und Evokation11. Trakl spricht von der „stolzeren“ Trauer, er benutzt damit die erste Steigerungsform von „stolz“, also den Komparativ12. Damit soll die besondere Feierlichkeit seine Ansprache (Apostrophe13) hervorgehoben werden, bei der er zu den „ehernen Altären“. Altäre wurden gemeinhin für die Verehrung von Gott oder eines Gottes (bei polytheistischen14 Religionen) genutzt, häufig wurde dieser Gott auch mit Opfergaben oder Brandopfer gehuldigt. Es fällt allerdings auf, dass Trakl in seiner Evokation das Personalpronomen15 „ihr“ klein schreibt. In der deutschen Sprache ist die Großschreibung des Personalpronomens ein Zeichen besonderer Höflichkeit und Respekt vor dem anderen („ihr“=„Ihr“, „du“=“Du“, „euch“=“Euch“, „sie“=“Sie“). In der englischen Sprache gibt es diese Möglichkeit z.B. nicht. Da hier mit dem Ausrufezeichen der Satz „O stolzere Trauer!“ abgeschlossen wurde, müsste der Anfang des nächsten Satzes nach den Regeln der Rechtschreibung ohnehin groß geschrieben werden, dennoch ist „ihr“ jedoch klein. Dies könnte ein Zeichen besonderer Respektlosigkeit gegenüber den Altären und dem Gott, für den er gebaut wurde, stehen. Trakls feierliche Anrede wäre dann lediglich ironisch gemeint und als Hohn zu verstehen. Schlussendlich konstatiert16 Trakl, dass die „heiße Flamme des Geistes heute ein gewaltiger Schmerz“ nährt, nämlich die „ungebornen Enkel“ (Z.16f). Die ungeborenen Enkel sind hier die Opfergabe, denn durch den Tod der Soldaten wird das Aufrücken der Nachfolgegeneration gestört. „Die heiße Flamme des Geistes“ hat zerstörerische Kraft, da Feuer brennbare Gegenstände vertilgt; ich vermute hierin eine Anspielung auf den menschlichen Zorn. Trakl verwendet als Stilmittel in erster Linie die bereits genannten Alliterationen und Assonanzen, jedoch auch Synekdochen (Z.6, Z.12), Inversionen (Z.9, Z3f: „Darüber die Sonne Düstrer hinrollt“) und Metaphern17 (Z.3: „Blaue Seen“, Z.6: „Zerbrochene Münder“). Darüber hinaus bedient sich Trakl sich einigen Enjambements18 (Z.1f, Z.2f, Z.3f etc.), so dass man hier auch von einem Hakenstil19 sprechen könnte. Die Farbmetaphorik bleibt im gewohnt expressionistischen Rahmen von schwarz/dunkel (Z.4: „Nacht“, Z.10: „schwarze Verwesung“) und rot (Z.8: „Rotes Gewölk“, Z.9: „Blut“) und stehen stets für den Tod.


Anmerkungen:
1 Militärapotheker
2 Blutvergiftung
3 Versmaß
4 Alliteration (Stilmittel): Bei der Alliteration beginnen mehrere Worte mit dem gleichen Buchstaben. Beispiel: „Milch macht müde Männer munter.“
5 Assonanz (Antonym: Dissonanz): Halbreim. Die Assonanz stellt lediglich den Gleichklang der Vokale dar, z.B. „Schwindsucht und Bindung“ oder „Laterne und Kapelle“.
6 Synekdoche (Stilmittel): Auch als „pars pro toto“ bekannt. Wörtlich: „Ein Teil für das Ganze“. Damit ist gemeint, dass ein Einzelaspekt stellvertretend für einen größeren Zusammenhang genannt wird, Beispiel: Ein Dach über den Kopf haben (Dach steht für hier für Haus).
7 Hyperbaton (Stilmittel): Beim Hyperbaton werden zwei Wörter künstlich durch einen Einschub voneinander getrennt.
8 transzendental: übernatürlich; die Grenzen des sinnlich Wahrnehmbaren und Erkennbaren überschreitend.
9 verneinen.
10 Ausruf, Gefühlsausdruck. Beispiel: „Ach“, „Aua“, „Huch“, „Oh“.
11 Evokation/Invokation: Anrufung
12 Der Komparativ stellt die erste Steigerungsform dar. Die zweite Steigerungsform ist der Superlativ. Beispiel: kalt, kälter (Komparativ), am kältesten (Superlativ).
13 Apostrophe (Stilmittel): Feierliche oder betonte Anrede; Anruf. Beispiel: „Du schönste Wunderblume süßer Frauen!“.
14 Die christliche Religion ist eine monotheistische Religion, da es nur einen Gott gibt. Die römische Religion hingegen war polytheistisch, da es hier mehrere Gottheiten gab (z.B. Mars, Quirinus und Jupiter).
15 Fürwort, das anstelle der redenden oder der angeredeten Person/Sache verwendet wird. Beispiele Singular (Nominativ): „Ich“, „Du“, „Er/Sie/Es“; Beispiele Plural (Nominativ): „Wir“, „Ihr“, „Sie“ etc.
16 abschließend feststellen; festhalten.
17 Metapher (Stilmittel): Bild.
18 Zeilensprünge. Ein Satz wird hier häufig gegen die Logik des Lesers mittendrin umgebrochen und auf zwei Verse verteilt. Je nach Kontext und Art der Umbrechung kann der Satz damit abgehackt (da man wegen der Unlogik zu Gedanken- und Sprechpausen gezwungen wird) oder auch temporeich wirken.
19 Der Hakenstil liegt vor, wenn ein Gedicht größtenteils oder vollständig aus Enjambements besteht. Der Hakenstil tritt z.B. auch in Alfred Wolfensteins „Städter“ auf.


Weitere Analysen

Interpretation von Angelina K. [2]



Weblinks:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Trakl
[2] http://lyrik.antikoerperchen.de/georg-trakl-grodek,textbearbeitung,71.html