Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Der Krieg“ (1911) von Georg Heym behandelt das Thema „Krieg“. Es besteht zunächst einmal aus 11 Strophen mit á 4 Versen, verfasst im Paarreim (aabb) und durchgehend männlichen Kadenzen1. Das besondere am diesem Gedicht Heyms ist sicherlich, dass der Krieg ständig und überall als Personifikation2, oder, um genau zu sein, als Allegorie3 auftaucht. Wir werden hier später im einzelnen noch zahlreiche Textbelege finden.
Da Werk lässt sich grob in drei Teile gliedern: Der erste Teil von Strophe 1 bis einschließlich 4 befasst sich mit der Einleitung. Hier wird der Krieg dem Leser als ein monströses Ungeheuer in schwarzer Gestalt vorgestellt. Heym personifiziert hier bereits den Krieg als eine Art menschenähnliches Ungetüm, welches „lange schlief“ und „unten aus dem Gewölben tief“ wieder aufgestanden ist. In den ersten beiden Versen spielt Heym wahrscheinlich auf den sogenannten „Siebziger Krieg“ oder auch „deutsch-französischen Krieg“ im Jahre 1870/71 zwischen Deutschland und Frankreich an, den Deutschland für sich entscheiden konnte. Das deutsch-französische Verhältnis litt auch nach dem Friedensabkommen weiterhin unter starken Spannungen; Heym sieht diesen Konflikt in seinem Gedicht wieder eskalieren. Als Stilmittel benutzt der Autor eine Anapher4 („Aufgestanden“).
Die Handlung des Gedichtes findet während der Dämmerung statt (V. 3). Der Krieg wird als „groß und unerkannt“ beschrieben, welcher den „Mond in der schwarzen Hand zerdrückt“. Heym übertreibt hier natürlich maßlos, wenn er schreibt, dass der Krieg den Mond in der Hand zerdrücken würde. Aber diese Hyperbel ist sehr bewußt eingesetzt, denn sie schürt Angst vor dem Krieg, welcher mit der Verdunklung des Mondes den Menschen jegliches Abendlicht und Hoffnung nimmt. Die Dämmerung kann hier auch nicht nur für den Sonnenuntergang, sondern symbolisch für den Menscheitsuntergang gesehen werden.
In der zweiten Strophe taucht zum ersten mal eine Stadt auf. Diese Stadt wird im späteren Verlauf des Gedichtes dem Krieg anheimfallen und in einem Inferno vollständig zerstört werden. Die Stadt befindet sich zunächst in seinem üblichen Tagesablauf (V. 5), doch plötzlich realisieren die Stadtbewohner den ihnen bevorstehenden Überfall auf ihre Stadt (V. 6ff). Interessant ist der sechste Vers, denn dass eine Dunkelheit Schatten werfen kann, klingt auf den ersten Blick recht befremdlich; Dunkelheit und Schatten sind viel mehr Synonyme und bedeuten annäherend das gleiche.
Die Erkenntnis, das Krieg ist, bricht über die Menschen sehr schlagartig herein. Heym verdeutlicht dies mit einem Asyndeton5 in Vers 8 („Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiß.“); die Sätze sind kurz, abgehakt und stehen ohne Bindungswort („und“, „oder“ etc.) nebeneinander. Darüber hinaus fehlt bei „Und keiner weiß“ dass Objekt, es wurde ausgelassen (Ellipse6 oder Aposiopesis7). Auch in der nächsten Strophe, in Vers 10, benutzt Heym wiederrum einen Asyndeton („Eine Frage. Keine Antwort. Ein Gesicht erbleicht“). Würde man hier von Kameraeinstellungen sprechen, so wäre Heyms Perspektivwechsel auf ein einzelnes bleiches Gesicht ein „Two-Shot“ oder vielleicht „Halbtotale“.
Die in der Ferne „wimmernde Geläut“ (Personifikation) sind Kirchenglocken. Kirchenglocken wurden früher aber auch als Alarmglocken benutzt, so dass alle Bewohner der Stadt im Krieg bei Flugangriffen und ähnlichem gewarnt wurden. Wiederrum stilistisch interessant ist 12.Vers, da hier mehrere Stilmittel auf einmal auftreten: Zum einen werden die bärtigen Männer der Stadt auf ihren Bart reduziert (Synekdoche8), zum anderen aber wiederum wird damit umschrieben oder verbildlicht, wie sich die Männer fürchten (Periphrase9 oder Metapher10). Darüber hinaus werden die Bärte jedoch auch personifiziert.
In der letzten Strophe des ersten Sinnabschnitts bereitet sich der Krieg mit einem Kriegstanz auf die Schlacht vor (V. 13) und motiviert seine Krieger zum Angriff (V. 14). Der Krieg genießt als Heeresführer vollste Autorität (V. 15) und schmückt sich mit einer Kette aus Totenschädeln (V. 16).
Die Einleitung ist damit abgeschlossen. Der zweite Teil handelt dann von dem Krieg und von der Zerstörung der Stadt selbst. „Einem Turm gleich tritt er aus die letzte Glut“ (V. 17) – Dieser Vers, Vergleich und Hyperbel zugleich, verdeutlicht, dass der Krieg die letzte Wärme und Hoffnung vernichtet. Wiederrum übertreibt Heym im nachfolgenden Vers, denn in der Ferne seien die Flüsse („Ströme“) schon voller Blut und im Schilf liegen Leichen, welche bereits bleich sind (V. 19f). In den Versen 23 und 24 gibt es wiederrum eine Anapher, ähnlich wie in den ersten beiden Versen („Über“). Das der Sprecher die Wächter als quer liegend bezeichnet, klingt fast schon wie eine Stilblüte11 und unfreiwillig komisch, gemeint sind damit aber die toten Wachen (Periphrase) und die toten Menschen auf den Brücken.
In der siebten Strophe stellt Heym im 25. Vers zunächst einmal den Satzbau um (Inversion12) und der Krieg jagt den Höllenhund Kerberos durch die Stadt (V. 26). Wiederrum stilistisch etwas verwirrend ist Vers 27: „Aus dem Dunkel springt der Nächte schwarze Welt“; Heym schreibt hier umgangssprachlich „doppelt gemoppelt“ (Pleonasmus13).
So führt der Sprecher seine Beobachtungen auch für die letzten der beiden Strophen fort und beschreibt die Feuersbrunst, mit dem der Krieg die Stadt und die Natur vernichtet, V. 29f: „rote Zipfelmützen weit sind die finstren Ebnen flackend überstreut“ (Metapher), (V. 31: „hin und her“ ist eine Zwillingsformel14, auch Binomial oder Paarformel genannt), V. 33: „Und die Flammen fressend brennend Wald um Wald“ (Alliteration15: „Flammen fressend“, Polyptoton16: „Wald um Wald“), V. 34: „Gelbe Fledermäuse zackig in das Laub gekrallt“ (Metapher). Mit Abschluss der 9. Strophe ist der zweite Teil beendet. Gehen wir über zum letzten Teil.
Der letzte Teil besteht nur aus den letzten beiden Strophen (10 und 11). Das eigentliche Kriegsschauspiel ist hier vorbei. Es wird beschrieben, dass sich die Stadt „lautlos in den Abgrunds Bauch“ geworfen habe (V. 38). Es ist also anzunehmen, dass die Bewohner keinerlei Gegenwehr geliefert haben, da sie – wie man in den Strophen 2 und 3 sehen konnte – auch völlig überrascht wurden. Eine weitergehende Unterstellung wäre, dass die Stadt eine Teilschuld an ihrem Schicksal hat und daher sozusagen „freiwillig“ in den Untergang steuerte.
Der Krieg hat die Stadt in einem Inferno und der totalen Apokalypse zerstört und demonstriert seine Siegerpose (V. 39f). Die Wolken sind sturmzerfetzt und darüber gibt es nur noch „des Dunkels tote Wüstenein“ (der Krieg hat sich auch auf die Natur ausgeweitet, bei Interesse ließe sich hier eine vielleicht vorhandene Parallele zum Kunstwerk „Alexanderschlacht“ von Altdorf erkennen); ein Gott oder einen Himmel gibt es hier also nicht (Transzendenzverlust).
Schließlich beschreibt der Sprecher, dass der Krieg die „Nacht weit verdorrt“ habe (V. 43, Oxymoron18) und „Pech und Feuer“ auf Gomorrha träufet. Diese Allusion erhärtet den Verdacht, dass die Stadt selbstverschuldet ihrer Vernichtung entgegensehen musste.
Auffällig ist neben der Personifizierung in diesem Gedicht, dass Heym stark auf die Farbmetaphorik setzt. Es überwiegen die Farben schwarz (am Anfang und im Schlussteil), rot und gelb (im Mittelteil); weniger bedeutsam sind die Farben „blau“ und „weiß“. Diese Farben sind typisch expressionistisch, assoziiert werden sie in diesem Werk immer mit Kälte, Schatten, Blut, Tod, Rauch und Feuer. Das ganze Gedicht steigert sich in einem Klimax19 bis zum Ende der 9. Strophe.
Mit der Personifizierung des Krieges wird der Krieg als ein menschenfressendes und menschenvernichtendes Ungeheuer dargestellt (Moloch). Die Wirkung dieser Personifikation soll vermutlich die „Reflexion“ sein. Den Menschen wird ihr eigenes Spiegelbild vorgehalten, das Wort “Krieg“ ist nicht nur ein abstrakter Begriff, sondern dahinter stehen immer Menschen. Die Menschen vernichten sich selbst und es obliegt jedem selbst die Verantwortung, ob ein Konflikt zu einem Krieg eskaliert.
Der Sprecher hält sich in diesem Gedicht sehr zurück. Ein lyrisches Ich ist im Prinzip nicht vorhanden, sondern nur ein Beobachter. Dieser Beobachter beschreibt distanziert das Geschehen und trotz der zahlreichen Hyperbeln20 (wie in V. 4 oder V. 18) durchaus realistisch. Gedichte mit einem solch distanzierten Sprecher werden auch als „Dinggedicht21“ bezeichnet. An der äußeren Form können wir auch sehen, dass das ganze Gedicht im Trochäus (betont-unbetont)und ausschließlich stumpfe Reime hat (männliche Kadenzen). Das Wort „Trochäus“ leitet sich aus dem griechischen „trochaios“ ab, was „Der Laufende“ oder „Fuß“ bedeutet. Der Trochäus ist ein Versmaß, welches in griechischen Bühnenstücken für dramatische Partien benutzt wurde, übertragen auf Heyms „Der Krieg“ ist auch hier der Trochäus ein Mittel, um den Inhalt etwas dramatischer klingen zu lassen. Unterstützt wird dies mit den „harten“ und „kantigen“ männlichen Kadenzen.
Heym hatte mit diesem Gedicht wahrscheinlich eine dunkle Vorahnung über den bevorstehenden 1.Weltkrieg (1914-1918). Geprägt würde Heyms Pessimismus z. B. durch die 1. und 2. Marokkokrise (1905 und 1910/1911), welche Deutschland außenpolitisch noch weiter isolierten, sowie das Wettrüsten (jährlicher Anstieg der Rüstungsausgaben um ca. 60%). Zu beachten ist auch, dass sich der deutsch-französische Konflikt nach dem Krieg 1870/71 nie wirklich abgekühlt hatte. Heym war auch ein starker Kritiker der Verstädterung, dem Großstadtleben und der Gesellschaft, was man immer wieder in seinen Gedichten beobachten kann. Aber nicht nur Heym hat die Stadt und die Gesellschaft zu einem seiner zentralen Motive werden lassen, sondern auch viele andere expressionistische Lyriker wie Alfred Wolfenstein.
Kritik an der Gesellschaft wird hier in den letzten beiden Strophen deutlich. Die Stadt hat sich sündhaft gemacht und wurde daher vernichtet. Heym könnte damit auf den Gesellschaftsverfall und den marodierten Gesellschaftswerten anspielen.