Gedichtinterpretation: Ernst Stadler – Der Spruch (Expressionismus)

Ernst Stadler [1] 1883-1914

1 In einem alten Buche stieß ich auf ein Wort,
2 Das traf mich wie ein Schlag und brennt durch meine Tage fort:
3 Und wenn ich mich an trübe Lust vergebe,
4 Schein, Lug und Spiel zu mir anstatt des Wesens hebe,
5 Wenn ich gefällig mich mit raschem Sinn belüge,
6 Als wäre Dunkles klar, als wenn nicht Leben tausend wild verschloßne Tore trüge,
7 Und Worte wiederspreche, deren Weite nie ich ausgefühlt,
8 Und Dinge fasse, deren Sein mich niemals aufgewühlt,
9 Wenn mich willkommner Traum mit Sammethänden streicht,
10 Und Tag und Wirklichkeit von mir entweicht,
11 Der Welt entfremdet, fremd dem tiefsten Ich,
12 Dann steht das Wort mir auf: Mensch, werde wesentlich!


Analyse und Interpretation:

Das einstrophige Gedicht „Der Spruch“ (1914) von Ernst Stadler besteht aus 12 Versen und ist im Paarreim (aabb) verfasst. Das expressionistische Werk hat im Gegensatz zu vielen anderen Gedichten aus seiner Epoche einen sehr offenen appellativen1 Charakter, denn es fordert den Leser dazu sich auf das Wesentliche des Menschseins zu besinnen.

Das Gedicht lässt sich trotz der einstrophigen Form in drei Teile gliedern. Den ersten Teil mit Vers 1 und 2 nutzt das lyrische Ich als Einleitung. Der Sprecher berichtet, dass er ein „Wort“ in einem „alten Buche“ entdeckt habe. „Wort“ ist hier nicht als einzelnes Wort zu verstehen, sondern als Sprichwort oder Aphorisme2. Dass das Ich auf diesen Lehrspruch in einem sehr alten Buch gestoßen ist, soll andeuten, dass es sich um eine Weisheit oder eine Tugend handelt, die schon vor langer Zeit in Vergessenheit geraten ist. Das lyrische Ich ist offenbar von diesem Spruch sehr bewegt, so dass es ihn „wie ein Schlag“ trifft (Vergleich) und es seitdem durch seine Tage „brennt“; der Spruch ist dem Ich ständig präsent und wird ihm Zeit seines Lebens in Erinnerung bleiben. Die Anleitung des Gedichts ist hiermit beendet.

Im zweiten Teil, dem Hauptteil (Vers 3 bis 11), beschreibt das Ich, in welchen Situationen er sich an diesen Spruch erinnert. Nämlich wenn er sich seinen Trieben unterwirft (Vers 3: „Wenn ich mich an trübe Lust vergebe“), wenn er Menschen und Dinge nur oberflächlich betrachtet (Z.4: „[Wenn ich] Schein, Lug und Spiel zu mir anstatt des Wesens hebe“), wenn er aus Trägheit und Bequemlichkeit Sachen für selbstverständlich hinnimmt (Z.5: „Wenn ich gefällig mich mit raschem Sinn belüge“), oder sich wiedermal in dem Irrglauben und dem Hochmut befindet, im Besitz von Wissen zu sein (Z.6), Gegenstände und Worte benutzt, ohne sich über ihre essenzielle Bedeutung bewußt zu werden (Z.7f) und sich lieber von angenehmen Scheinwelten okkupieren3 lässt und sich dabei immer mehr von der wirklichen Welt entfremdet (Z.9ff).
Stadler benutzt in diesem Hauptteil als Stilmittel im wesentlichen Vergleiche Parallelismen4 (Z.7f), Metaphern5 (Z.6, Z.9), Inversionen6 (Z.5, Z.6, Z.7) und Ellipsen7 (Z.6: „Als wenn das Leben nicht tausend wild verschloßne Tore trüge“). Insgesamt kann man auch einen leichten Klimax8 erkennen: Am Anfang wird der Sprecher nur bei der Auslebung seiner Triebe an den Spruch erinnert, dann bei dem ganz alltäglichen Umgang mit Gegenständen und Wörtern und am Ende ist das Ich völlig entfremdet von der Welt und lebt in einem Traum.

Zum Abschluss erfährt der Leser dann endlich, welcher Spruch das lyrische Ich in dem alten Buch entdeckt hat, es ist „Mensch, werde wesentlich“ (Z.12). Dass lyrische Ich hat dieses Sprichwort so internalisiert, dass es keine Kontrolle darüber hat, wann es dem Sprecher wieder in Erinnerung gerufen wird, denn das Wort steht einfach auf (Personifikation9) und ermahnt ihn.

Die Situationen, in denen das lyrische Ich an seinen Merksatz erinnert wird, sind auch für uns sehr alltägliche Situationen. Gerade deshalb und weil sich jeder mit dem „Mensch“ in „Mensch, werde wesentlich“ angesprochen fühlt, kann sich der Leser schnell mit dem Sprecher identizifieren und der Spruch wird nicht nur zum Spruch, an dem sich der Sprecher erinnern sollte, sondern auch der Leser.
Ein kleiner Denkanstoß: Wieviele Wörter benutzen wir täglich, ohne deren wirkliche Bedeutung zu hinterfragen, zu erforschen? Wie sehr haben wir uns von der Natur entfernt und leben in einer Schein- und Medienwelt? Wie oft glauben wir, wir seien im Besitz der absoluten Wahrheit und dem Wissen, was in der Welt wirklich geschehe?

Gerade bei der letzten Frage möchte ich mit Sokrates anknüpfen. Sokrates war ein griechischer Philosoph aus Athen. Sokrates fühlte sich vom Gott der Weisheit berufen und provozierte immer wieder Streitgespräche mit den zu damaliger Zeit als „weise“ geltenden Menschen (den sogenannten „Sophisten“). Sokrates reizte die Gelehrten immer wieder mit tiefschürfenden Fragen, er hinterfragte immer wieder das Wissen der Sophisten. Ja, Sokrates versuchte ihr Wissen regelrecht zu entzaubern, er machte sich Gedanken über die täglich gedankenlos verwendeten Begriffe, er versuchte die Vernunft als wegweisend darzulegen, um zwischen Recht und Unrecht unterscheiden zu können. Von Sokrates stammen einige sehr bekannte Zitate wie „Erkenne dich selbst“ und „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Sokrates wurde schließlich wegen Gotteslästerung und verderblichen Einfluss auf die Jugend zum Tode verurteilt. Die Aphorisme aus diesem Gedicht, „Mensch, werde wesentlich“, könnte von Sokrates selbst stammen.

Über das, was denn nun das Wesentliche im Menschen sein soll, schweigt sich der Sprecher allerdings leider aus.


Anmerkungen:
1 Es gibt 4 verschiedene Textcharakter: deskriptiv/narrativ (beschreibendm erzählend), argumentativ (begründen), appellativ (auffordernd), explikativ/informativ (erklärend, informierend).
2 Lebensweisheit.
3 Sich vereinnahmen lassen.
4 Parallelismus (Stilmittel): Es liegt ein Parallelismus vor, wenn zwei (oder mehr) Sätze den gleichen grammatisch-syntaktischen Aufbau haben.
5 Metapher (Stilmittel): Bild. Beispiel: Der „verstand ist ein messer in uns.“
6 Umstellung des Satzbaus.
7 Auslassung von Wörtern.
8 (Dreigliedrige) Steigerung.
9 Personifikation (Stilmittel): Bei der Personifikation wird ein lebloser oder ein abstrakter Begriff, oder aber auch ein Tier, „vermenschlicht“. Personifikationen treten z.B. immer in Fabeln auf (da Tiere wie Menschen handeln). Anderes Beispiel: Der Mond schaut zornig drein; der Mond nimmt hier also charakteristische menschliche Züge an.



Weblinks:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Stadler