Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
In dem Gedicht „Ein alter Tibetteppich“ von Else Lasker-Schüler, geschrieben 1906, spricht das lyrische Ich ihren Geliebten an und über deren Liebe.
Die Wiedergabe des Textes kann schnell geschehen, da die Handlung darin relativ gering ist.
Was die Interpretation jedoch schwer macht ist die Verwendung vieler Neuschöpfungen.
Das Gedicht besteht aus neun Versen, die im Folgenden beschrieben werden. Da keine direkten Strophen zu erkennen sind, werden die Verse nun paarweise zusammengefasst.
In Vers eins und zwei findet sich die Feststellung des lyrischen Ichs, dass die Seelen beider Liebenden miteinander verknüpft sind. Dazu wird der Vergleich mit einem geknüpften Teppich verwendet.
Die Verbindung des Liebespaares wird in Vers drei und vier mit Farben und Sternen verglichen.
In Vers fünf und sechs wird beschrieben, wie die Füße der Liebenden auf diesem Teppich ruhen.
Zuletzt wird in Vers sieben, acht und neun der Geliebte von dem lyrischen Ich direkt angesprochen. Die Sprecherin fragt wie lang schon ihr Kuss und ihre Berührung andauern.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Sprecherin Vergleiche zu ihrer Liebesbeziehung sucht und ihr Liebesglück in Worte fassen möchte.
Anschließend werden die formalen und sprachlichen Mittel in „Ein alter Tibetteppich“ untersucht.
Das Gedicht besteht – wie schon erwähnt – aus neun Versen. Diese sind mit Paarreimen (aa, bb, cc, dd) miteinander verbunden. Die einzige Ausnahme bildet Vers acht, der sich nicht reimt und wird aus diesem Grund Waise genannt. Dadurch wird der geregelte Rhythmus des Gedichtes gestört und besonders auf den Inhalt hingewiesen. In Vers acht wird nach der Dauer des Kusses gefragt und dieser somit – als Zeichen der Verbundenheit des Paares – besonders betont.
Das Versmaß ist ein Trochäus. Die Hebungen sind vier-, fünf, und sechshebig, was für die aufwallenden Gefühle steht.
Was die Interpretation des Gedichts nicht so leicht macht sind die vielen Neuschöpfungen des lyrischen Ichs, die jeweils gedeutet werden müssen. Die Sprecherin drückt in den neun Versen ihre Liebe aus ohne auf traditionelle Ausdrücke der Liebeslyrik zurückzugreifen. Deshalb bedarf es bei einer Interpretation des Textes oft einer genauen Analyse, da Worte auftreten, die man noch nie zuvor vernommen hat.
Das Gedicht beginnt mit einer Apostrophe1. Das lyrische Ich spricht zu dem Geliebten. Zentrales Motiv sind die beiden ursprünglichen Pole: „deine Seele“ und „meine“ (V. 1), die nun zu einem Ganzen geworden sind.
Die Metapher2 des Teppichs (V. 2) verdeutlicht erneut, dass aus zwei eigenständigen Personen ein Paar geworden ist. Die einzelnen Leben sind wie das Gewebe eines Teppichs miteinander verknüpft.
Interessant ist auch die Umkehrung des Wortes „Tibetteppich“ aus der Überschrift in „Teppichtibet“. Zum einen geschah dies wohl aus formalen Gründen, da sich das Wort nun auf das Verb „liebet“ aus Vers eins reimt. Andererseits ist anzunehmen, dass dies nicht der einzige Grund für die Inversion3 des Wortes ist, da in dem lyrischen Text zahlreiche Neuschöpfungen von Wörtern auftreten. Durch das neugeschaffene Wort „Teppichtibet“ wird deutlich, dass die Verbindung etwas Besonderes ist.
Des Weiteren stellt sich die Frage warum „Tibet“ verwendet wurde. Zum einen lassen sich dafür wieder formale Gründe finden, da auf diese Weise eine Häufung des Konsonanten „t“ auftritt, was den Rhythmus des Gedichtes beschleunigt. Zum anderen ist Tibet ein Hochland in Zentralasien. Auch heute noch ist dies eine Gegend, die nicht von vielen bereist wird und den Hauch des Exotischen trägt. Dabei ist zu bedenken, dass das Gedicht im Jahre 1906 entstand, eine Zeit den meisten Menschen nur aus Erzählungen oder der Zeitung bekannt war und einen äußerst weit entfernten Ort darstellte.
In Vers drei gibt es eine Wiederholung: „Strahl in Strahl“. Dies bezieht sich auf die Maschen des Teppichs, deutet aber auch auf deren Leuchtkraft hin, was wiederum das Verhältnis zwischen den beiden Liebenden beschreiben soll.
Ebenso die Personifizierung „verliebte Farben“ (V. 3). Diese dienen abermals als Symbol für den Gefühlszustand des Paares, wie auch die „Sterne“ in Vers vier.
Wie schon zuvor erwähnt, sind Neologismen4 zentrales poetisches Gestaltungsmittel in dem Gedicht. So auch „himmellang“ (V. 4) als nähere Beschreibung wie sich die Sterne in Vers vier umwarben. „Himmellang“ ist somit eine Steigerung für „lang“ und im Sinne von „unendlich lang“ – so lang wie der Himmel – zu verstehen.
In Vers fünf wird beschrieben, dass die Füße der Liebenden auf dem Teppich ruhen. Im deutschen Sprachgebrauch gibt es den Ausdruck „den Boden unter den Füßen verlieren“. Es scheint, als ob der Teppich den beiden Halt und eine gewisse Sicherheit geben würde. Die Beziehung, symbolisiert durch den Teppich, gibt beiden also ein bestimmtes Maß an Schutz und Geborgenheit. Sie können sich gegenseitig aufeinander verlassen. Dies wird durch das Substantiv „Kostbarkeit“ auf der sie ruhen, weiter verstärkt. Somit ist „Kostbarkeit“ eine Metapher, die ursprünglich für den kunstvoll gefertigten Teppich steht, in Wirklichkeit aber die Beziehung des Paares symbolisiert. Das lyrische Ich empfindet den Zustand somit als eine Art Heiligtum.
Interessant ist auch der folgende Neologismus in Vers 6: „Maschentausendabertausendweit“. Schon allein optisch symbolisiert es Unendlichkeit. Dieses neu erfundene Wort bezeichnet die unendlich vielen Verknüpfungen des Teppichs. Wieder ein Symbol für die Verbundenheit des Paares. Durch die „abertausend“ Maschen wird deutlich, dass die Verbindungen vielfältig sind und eine endgültige Auflösung des Teppichs – wie auch der Beziehung – nahezu unmöglich ist.
In dem siebten Vers spricht das lyrische Ich den Partner direkt an: „Süßer Lamasohn auf Moschuspflanzenthron“. Hier herrscht ein Binnenreim vor (Lamasohn, Moschuspflanzenthron), was bedeutet, dass sich Worte innerhalb einer Verszeile reimen.
Der beschriebene Thron ist ein weiterer Neologismus, welcher weiterer Deutung bedarf. „Moschus ist ein Duftstoff, der Bestandteile enthält, die Strukturähnlichkeiten zu Pheromonen haben. Diese sollen eine aphrodisierende Wirkung haben“. Somit passt diese Wortneuschöpfung in den Kontext des Gedichts, denn Pheromone sind Naturstoffe, die der biochemischen Kommunikation zwischen Lebewesen einer Spezies dienen. Dass der Geliebte auf einem „Moschuspflanzenthron“ zu sitzen scheint, bedeutet, dass das lyrische Ich mit ihm nicht nur seelisch (vgl. V. 1 f.), sondern auch körperlich verbunden ist. Seine äußere, wie auch olfaktorische Erscheinung wirkt also äußerst anziehend auf die Sprecherin. Der Thron symbolisiert hier die Macht des Mannes über die Geliebte durch seine Anziehungskraft.
Wieder ist in Vers acht die Benennung der beiden Pole (vgl. V. 1) und deren Verbundenheit beschrieben: „Wie lange küsst dein Mund den meinen wohl“. Weiter heißt es: „Und Wang die Wange“. Dies deutet wiederum auf die körperliche Nähe der beiden hin.
Die a – Assonanz5 (lang V. 8; Wang, Wange V. 9) verstärkt den Eindruck der Länge des Liebesspiels des Paars.
Zu beachten ist auch der letzte Neologismus „buntgeknüpfte Zeiten“ (V. 9). Dieser Ausdruck erinnert an die „verliebten Farben“ aus Vers drei. „Bunt“ steht für Freude und Abwechslung. Jedoch deutet „bunt“ auch auf eventuelle Probleme hin. Schließlich gibt es ja auch den Ausdruck „Das ist mir jetzt aber zu bunt“. „Bunt“ kann ebenso für Durcheinander und Chaos stehen. Somit findet sich in diesem Neologismus der Hinweis, dass sich das Paar Schwierigkeiten gegenüber sieht. Der erwähnte Kuss scheint eine Ablenkung davon zu sein und hilft ihnen darüber hinwegzusehen und die Probleme für einige Zeit zu vergessen. Vielleicht ist dies auch der Grund für die Frage des lyrischen Ichs: „Wie lange […] schon?“.
Zum Abschluss werden noch Fragen, die durch das Gedicht aufgeworfen wurden, betrachtet.
Der Titel steht im Gegensatz zu dem Inhalt des Gedichtes. In der Überschrift heißt es „Ein alter Tibetteppich“, die Liebe in dem lyrischen Text hingegen scheint ziemlich frisch zu sein und die Verliebtheit am Anfang einer Beziehung darzustellen. Es ist zu vermuten, dass das lyrische Ich einen alten Teppich sieht und daraufhin den Vergleich mit ihrer Beziehung anstrebt. Vermutlich ist es aber auch der Wunsch der Sprecherin, dass ihre Liebe so lange hält wie die Maschen des Teppichs schon miteinander verknüpft sind.
Ebenfalls stellt sich die Frage, warum in dem Gedicht so ungewöhnliche Worte auftauchen. Wahrscheinlich geschah dies aus dem Grund, da Liebe oft nicht in gewöhnliche Worte gefasst werden kann. In dem Gedicht wird deutlich, dass dieses Gefühl unbeschreibbar und für jeden so individuell ist, dass erst eigens zu dafür Worte erfunden werden müssen um den Zustand, in dem man sich befindet, zu schildern. Die Neologismen geben dem Gedicht einen bestimmten Zauber, den auch eine Beziehung mit sich bringt.
Zuletzt soll noch das außergewöhnliche Thema des Gedichts analysiert werden. Die Verbindung der beiden wird mit einem Teppich aus Tibet verglichen. Das Hochland war für die meisten Menschen um 1906 unvorstellbar weit weg und steht somit für etwas Besonderes. Die Liebe scheint hier eine Flucht aus dem geregelten Alltag zu sein. Tibet ist in einem fernen Land und genauso können einen Gefühlszustände in andere Zustände versetzen. Die Zuneigung zu dem Partner wird von dem lyrischen Ich wie eine Reise in die Ferne empfunden. Eventuell sehnt die Sprecherin sich auch nach einem Leben fernab von aller Ordnung und sucht sie in dieser Beziehung.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in „Ein alter Tibetteppich“ von Else Lasker-Schüler das lyrische Ich in Gestalt einer Frau zu ihrem Partner über deren – scheinbar – erfüllte Beziehung spricht.
Außergewöhnlich an dem lyrischen Text ist die Wortwahl und zudem, dass eine Frau in der damaligen Zeit ihre Gefühle auf diese Weise preisgibt. Else Lasker – Schülers Art Werke zu schreiben scheint, allein schon bei der Betrachtung dieses einen Gedichts, einzigartig. „Unter ihren Zeitgenossen findet man, wie ich meine, in dieser Hinsicht kaum Vergleichbares“. Sie zeigt auf ihre eigene, ganz individuelle Weise, dass Liebe nichts ist, das in alltäglichen Worten erfasst werden kann, sondern dass zahlreiche Neuschöpfungen bedarf um sie annähernd zu beschreiben.