Gedichtinterpretation: Georg Trakl – Die Raben (Expressionismus)

Georg Trakl [1] 1887-1914

1 Über den schwarzen Winkel hasten
2 Am Mittag die Raben mit hartem Schrei.
3 Ihr Schatten streift an der Hirschkuh vorbei
4 Und manchmal sieht man sie mürrisch rasten.

5 O wie sie die braune Stille stören,
6 In der ein Acker sich verzückt,
7 Wie ein Weib, das schwere Ahnung berückt,
8 Und manchmal kann man sie keifen hören

9 Um ein Aas, das sie irgendwo wittern,
10 Und plötzlich richten nach Nord sie den Flug
11 Und schwinden wie ein Leichenzug
12 In Lüften, die von Wollust1 zittern.

Anmerkungen:
1 Eine der sieben Todsünden. „Sinnliches Vergnügen an etwas haben“.


Analyse und Interpretation:

Das Gedicht „Die Raben“ (1913) von Georg Trakl beschreibt das lyrische Ich das Verhalten einer Schar von Rabenvögel. Das Gedicht hat drei Strophen mit jeweils vier Versen, verfasst in einem umarmenden Reim (abba).

In der ersten Strophe schildert Sprecher, wie die Raben mittags mit „hartem Schrei“ über den „schwarzen Winkel hasten“ (Z.1f). Wir wissen von Trakl, dass seine Werke meist mit Symbolen verschlüsselt sind und er nur selten eine eindeutige Interpretation zulässt. Es handelt sich hier um einen ganz bestimmten „schwarzen Winkel“, da ihm ein bestimmter Artikel („den“) vorangestellt ist. Dies könnte einfach nur der Teil einer Ortschaft sein, z.B. ein Waldstück. Ich würde mit dem „schwarzen Winkel“ aber eine Anspielung auf einen Galgen sehen; als Stilmittel hätte Trakl hier dann eine Metonymie1 verwendet. Der Galgen ist für mich in mehrerlei Hinsicht schlüssig: Zum einen wird mit dem Adjektiv „schwarz“ seine todbringende Eigenschaft unterstrichen, zum anderen entspricht die Bezeichnung als „Winkel“ seiner typisch rechtwinklige Bauweise. Desweiteren wurden im Jahre 1913, als das Gedicht verfasst wurden (und in dem wahrscheinlich auch die Handlung stattfindet) durchaus noch Hinrichtungen in Österreich durchgeführt; sie fanden häufig Mittags statt und es wurden vermehrt Raben als „Leichenfledderer“ beobachtet, die den Hinrichtungen als Aasvögel beiwohnten.
Bei den Raben, von den das lyrische Ich hier berichtet, wird es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um den Kolkraben handeln. Der Kolkrabe war im Mittelalter häufig ein Beiwohner von Hinrichtungsstätten und ein Aasfresser. Dass der Sprecher die „Schreie“ der Raben als „hart“ empfindet verwundert nicht; zwar zählen Raben zu den Singvögeln, aber die typischen Laute der Raben („kraa“, „kork“ u.ä.) klingen für den Menschen eher befremdlich. Des weiteren streifen die Schatten der Rabenschar an einer Hirschkuh vorbei (Z.3) und manchmal kann der Sprecher die Raben „mürrisch rasten“ (Personifikation2) sehen. Über die mögliche Bedeutung des dritten Verses werde ich später noch eingehen.

In der zweiten Strophe stören die Raben bei ihrer Rast die „braune Stille“ eines Ackers (Z.5). Trakl wendet hier eine Synästhesie3 an, denn „braun“ ist nur über das optische Sinnesorgan zu erkennen, während „Stille“ nur gehört werden kann. Mit der „braunen Stille“ ist wahrscheinlich die Stille des Ackers gemeint, in dass sich der Acker „verzückt“ (Personifikation). Im siebten Vers erfährt der Acker plötzlich eine Art von „Geschlechtsumwandlung“, denn schließlich hat der Acker in der deutschen Sprache einen männlichen Artikel („der Acker“). Im siebten Vers allerdings wird der Acker als „Weib“ personifiziert, für dass der Anflug der Raben wie das Überkommen einer „schweren Ahnung“ ist (Z.7). Welche schwere Ahnung der Acker haben sollte, bleibt dem Leser zunächst unklar. Unterstützt wird diese Vorahnung durch eine weitere Personifikation im achten Vers, bei der die Raben „keifen“; die Raben streiten oder schimpfen sozusagen.

Leider schafft auch die letzte Strophe nur wenig Klarheit über den Sinn der zweiten Strophe. Zweite und dritte Strophe gehen durch einen Enjambement4 ineinander über. Dem Leser wird jetzt bewusst, worüber die Raben sich streiten, nämlich um ein „Aas“, dass sie „irgendwo wittern“ (Z.9). Über die Art des Aases gibt der Sprecher leider keine Aussage (es ist also kein auktorialer Sprecher in diesem Gedicht), denn ob menschlicher oder tierischer Aas, könnte für eine genaue Interpretation später durchaus interessant sein.
Die Witterung des Aases treibt die Rabenschar zum Flug Richtung Norden an (Z.10, Inversion5 in diesem Vers). Das lyrische Ich beschreibt den Flug der Schar wie ein „Leichenzug“ (Vergleich) und die Luft, die vor „Wollust zittere“ (wiederrum eine Personifikation).

Die eindeutige Interpretation diese Gedichtes erscheint mir sehr waghalsig. Da aber wie bereits gesagt von Trakl bekannt ist, dass er sehr viele (religiöse) Symbole in seinen Gedichten verwendet, werde ich einige dieser Symbole zu entschlüsseln versuchen.
Zunächst einmal kann man zu den Hauptakteuren, nach denen auch das Gedicht betitelt ist, nämlich den Raben sagen, dass zwischen dieser Vogelgattung und dem Menschen seit jeher ein zwiespältiges Verhältnis besteht. In vielen Anekdoten6, Sagen und Märchen wird der Rabe als Tod- und Unheilsbringer diffamiert7, diese Überzeugung lebt auch in einigen Sprichwörtern wie „Du Unglücksrabe!“ bis heute weiter. Besonders skeptisch war man ihnen gegenüber auch, weil sie bei den Hinrichtungsstätten, aber auch auf Schlachtfeldern als sogenannte „Leichenfledderer“ (Aasfresser) oder „Galgenvögel“ auftauchten. Im Mittelalter wurde die Ernte der Bauern von Krähen und Raben bedroht und so kam auch der Aberglaube auf, dass tote, aufgehängte Krähen oder Raben die Schädlinge fernhalten könnten. Das schwarze Gefieder der Raben gab ihnen auch den Beinamen „Pestvogel“. Ihr sehr schlechter Ruf hat dazu geführt, dass der Kolkrabe gejagt wurde und heute fast nur noch im Alpenraum beheimatet ist.
In der germanischen Mythologie wurde „Odin [2]“ (auch als „Wotan [3]“ bekannt), der Gott der Weisheit und des Krieges, stehts von seinen zwei treuen Raben „Hugin“ und „Munin“ begleitet, die er in die Welt entsandte und ihn immer über Neuigkeiten benachrichtigten. Odin war für die Germanen damit auch „Der Herrscher der Raben“. Odin ist sowas wie der germanische Merkur [4] und daher ebenso wie Merkur der „Führer der Seelen ins Totenreich“. Darüber hinaus gibt es für Odin neben Wotan noch eine ganze weitere Menge Namen, z.B. „Hangatyr“, der Gott der Erhängten; daher ist Odin auch eine Art „Totengott“.
Zu guter letzt gelten Raben jedoch auch als sehr intelligente Tiere.

Insgesamt passt dieses Bild des Raben sehr gut in dieses Gedicht. In der ersten Strophe wird der Rabe als „Galgenvogel“ dargestellt, der sich zu den Hinrichtungen bei Mittag am Galgen einfindet. In der zweiten Strophe wird die Saat des noch frischen Acker (dass der Acker noch nicht bewachsen ist, lässt sich an der „braunen Stille“ in Vers fünf ablesen) womöglich von den Raben geplündert. Darüber hinaus aber bedeuten die Raben Unheilsboten für das Acker, da es von „schwerer Ahnung berückt“ (Z.7) wird. Da die Raben auch Vorboten des germanischen Kriegsgottes Odins waren, könnten die Raben eine bevorstehende Schlacht auf diesem Acker bedeuten.
In der dritten Strophe nun haben die Raben ein Aas gewittert und brechen ihren Flug nach Norden auf. Da Raben auch als „Leichenfledderer“ bei Kriegen gesehen wurden und sollte es sich hier um einen menschlichen Aas handeln, so könnte der Aufbruch der Raben nach Norden auch auf eine bestehende Schlacht oder einen erlegenen Kriegsverletzen in unmittelbarer Nähe Richtung Norden handeln.
Der Sprecher des Gedichtes könnte sich also in Nähe eines Kriegsgebietes befinden.

Um den dritten Verses dieses Gedichtes nochmal näher zu betrachten, kann es nützlich sein zu wissen, dass der Hirsch ein Christussymbol ist. Die Hirschkuh im speziellen steht für Ehre und Stolz. Der Schatten wiederrum, welcher die Hirschkuh streift, kann eine Anspielung auf den Hades bedeuten. Das Christentum könnte sich also vor dem Untergang durch den Krieg befinden.

Freilich ist diese Interpretation nicht sehr offensichtlich. Aber das zeigt die Vielschichtigkeit und die starke Chiffrierung8 von Trakls Lyrik. Trakl erreicht diese Verschlüsselung hauptsächlich durch (religiöse) Symbole, da er durch die französischen Symbolisten [5] mitgeprägt wurde und aus einem sehr christlichen Elternhaus stammt. Des weiteren kann man auch typisch expressionistische Farben und Motive in diesem Gedicht erkennen. Trakl verwendet häufig Personifikationen (Z.4, Z.6, Z.7, Z.8), es tritt aber auch eine Synästhesie auf (Z.5). Farblich bleibt Trakl bei „schwarz“, was er hier mit dem Tod assoziiert (Z.1: „schwarzen Winkel“, Z.3: „Ihr Schatten streift an der Hirschkuh vorbei“). Auf das Thema „Tod“ wird immer wieder hingewiesen, z.B. in Vers 1, V.3, V.11 und V.12.


Anmerkungen:
1 Metonymie (Stilmittel): Ersetzung eines gebräuchlichen Wortes durch ein anderes, das zu ihm in unmittelbarer Beziehung steht: z.B. Autor für Werk, Gefäß für Inhalt, Ort für Person.
2 Personifikation (Stilmittel): Bei der Personifikation wird ein lebloser oder ein abstrakter Begriff, oder aber auch ein Tier, „vermenschlicht“. Personifikationen treten z.B. immer in Fabeln auf (da Tiere wie Menschen handeln). Anderes Beispiel: Der Mond schaut zornig drein; der Mond nimmt hier also charakteristische menschliche Züge an.
3 Synästhesie (Stilmittel): Verbindung unterschiedlicher Sinneseindrücke. Beispiel: „Sehe mit fühlendem Auge“.
4 Zeilensprünge. Ein Satz wird hier häufig gegen die Logik des Lesers mittendrin umgebrochen und auf zwei Verse verteilt. Je nach Kontext und Art der Umbrechung kann der Satz damit abgehackt (da man wegen der Unlogik zu Gedanken- und Sprechpausen gezwungen wird) oder auch temporeich wirken.
5 Umstellung des Satzbaus.
6 Erzählungen.
7 Etwas oder jemanden schlecht reden.
8 Verschlüsselung.



Weblinks:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Trakl
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Odin
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Wotan
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Merkur_%28Mythologie%29
[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Symbolismus_%28Literatur%29