Gedichtinterpretation: Alfred Lichtenstein – Die Stadt (Expressionismus)

Alfred Lichtenstein [1] 1889-1914

1 Ein weißer Vogel ist der große Himmel.
2 Hart unter ihn geduckt stiert1 eine Stadt.
3 Die Häuser sind halbtote alte Leute.

4 Griesgrämig glotzt ein dünner Droschkenschimmel2.
5 Und Winde, magre Hunde, rennen matt.
6 An scharfen Ecken quietschen ihre Häute.

7 In einer Straße stöhnt ein Irrer: Du, ach, du –
8 Wenn ich dich endlich, o Geliebte, fände…
9 Ein Haufen um ihn staunt und grinst voll Spott.

10 Drei kleine Menschen spielen Blindekuh –
11 Auf alles legt die grauen Puderhände
12 Der Nachmittag, ein sanft verweinter Gott.


Anmerkungen:
1 starren
2 Eine Droschke ist eine Kutsche. Ein Droschkenschimmel ist demnach ein Kutschenpferd.


Analyse und Interpretation:

Das expressionistische Stadtgedicht „die Stadt“, das 1913 von Alfred Lichtenstein geschrieben wurde, beschreibt eine trostlos wirkende Stadt.
Es besteht aus vier Strophen zu je drei Versen, weist das Reimschema „abcabc“ und das Metrum Jambus auf.

In der ersten Strophe beschreibt Alfred Lichtenstein kurz die Stadt mit ihren Häusern und dem Himmel. Dazu benutzt er eine Metapher (V.1) und zwei Personifikationen (V.2; 3).
In den ersten beiden Versen gibt es einen Gegensatz zwischen dem reinen Himmel (V.1) und der schmutzigen Stadt (V.2) .Diese Personifikation lässt die Stadt leblos wirken.
Im dritten Vers stellt Alfred Lichtenstein die Häuser als halbtote Leute dar. Das lässt die Stimmung noch bedrückender und die Stadt kalt und tot wirken. Die nächsten beiden Strophen beschreiben nun die Tiere und Menschen. Im vierten Vers benutzt Alfred Lichtenstein wieder eine Personifikation, die zeigt, dass die Stadt und die Trostlosigkeit, die dort herrscht, auch Auswirkungen auf die Tiere hat. Auch der nächste Vers beinhaltet wieder eine Personifikation, die ausdrückt, dass alles, was passiert einfach schnell an den Menschen vorbeizieht. Die mageren Hunde (V.5) sollen die Menschen darstellen (in Bezug auf V.3: „(…) halbtote Leute“).In der dritten Strophe wird ein Irrer beschrieben, der seine Geliebte finden möchte (V.7; 8). Der Mensch wird in dem neunten Vers von einem Haufen anderer Menschen verspottet und wird als Irrer dargestellt, weil er versucht in einer lieblosen Stadt Liebe zu finden. Der Haufen Menschen soll deutlich machen, dass es in der Stadt keine Individualität gibt. Die letzte Strophe beschreibt einen Nachmittag der Stadt (V.11; 12), wodurch die Eintönigkeit und schlechte Stimmung beschrieben werden, die dort herrschen. Die kleinen Menschen, die Blindekuh spielen, sollen Kinder darstellen, die von all dem Schlechten in der Stadt nichts mitbekommen. Sie sind sozusagen blind. Allerdings können das auch erwachsene Menschen sein, die sich einfach klein machen. Also würde das Spiel Blindekuh hier bedeuten, dass sie sich vor dem Schlechten verstecken und so tun als seien sie blind um nichts mitzubekommen, weil sie das eben nicht wollen. Sie ignorieren alles einfach.

Das Gedicht beinhaltet viele Metaphern und Personifikationen. Alfred Lichtenstein lässt nicht nur die Stadt, sondern auch Tiere, Menschen und die Umgebung trostlos und traurig wirken. Dafür benutzt er negativ konnotierte Adjektive und Verben wie „hart geduckt“ (V.2), „stiert“ (V.2), „halbtote“ (V.3), „griesgrämig“ (V.4), „dünner“ (V.4), „mager“ (V.5), „stöhnt“ (V.7), „grau“ (V.11) und „verweint“ (V.12). Der Leser bekommt einen schlechten Eindruck von der Stadt. Man erkennt schnell Die Grausamkeit, Einsamkeit und Lieblosigkeit, die dort herrschen. Außerdem wirkt die Atmosphäre bedrückend und beängstigend. Das sind auch Merkmale für ein typisch expressionistisches Stadtgedicht. Weitere Merkmale sind der Menschenhaufen aus Vers 9 und die kleinen Menschen aus Vers 10, die zeigen, dass es in der Stadt keine Individualität gibt und dass sich jeder nur um sich selbst kümmert und von den anderen Menschen gar nichts mitbekommen will.


Weitere Analysen

Interpretation von Angelina K. [2]



Weblinks:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Lichtenstein
[2] http://lyrik.antikoerperchen.de/alfred-lichtenstein-die-stadt,textbearbeitung,65.html