Gedichtinterpretation: Charles Baudelaire – An eine, die vorüberging (Expressionismus)

Charles Baudelaire [1] 1821-1867

1 Der Straßenlärm betäubend zu mir drang.
2 In großer Trauer, schlank, von Schmerz gestrafft,
3 Schritt eine Frau vorbei, die mit der Hand gerafft,
4 Den Saum des Kleides hob, der glockig schwang.

5 Anmutig, wie gemeißelt war das Bein.
6 Und ich, erstarrt, wie außer mich gebracht,
7 Vom Himmel ihrer Augen, wo ein Sturm erwacht,
8 Sog Süße, die betört, und Lust, die tötet, ein.

9 Ein Blitz… dann Nacht! - Du Schöne, mir verloren,
10 Durch deren Blick ich jählings neu geboren,
11 Werd ich in Ewigkeit dich erst wiedersehn?

12 Woanders, weit von hier! zu spät! soll’s nie geschehn?
13 Dein Ziel ist mir und dir das meine unbekannt.
14 Dich hätte ich geliebt, und du hast es geahnt!


Anmerkungen:
Das Gedicht ist vor dem Expressionismus entstanden, enthält aber typische Elemente dieser Epoche und wird daher dem Expressionismus zugeordnet.


Analyse und Interpretation:

Dieses Sonett wurde 1860 von Charles Baudelaire verfasst. Es thematisiert die Faszination des lyrischen Ichs von einer kurzen Begegnung mit einer Frau in der Kulisse der Großstadt. Dieses Gedicht ist ein Schrei nach Hilfe aus der Einsamkeit.

Zunächst begegnet das lyrische Ich der Frau und ist fasziniert von ihr. Anschließend wird die Beobachtung und Wirkung der Frau auf das lyrische Ich beschrieben. Darauffolgend die Angst des lyrischen Ichs die Frau zu verlieren, aufgrund des nahenden Abschieds. Als die Frau nun an ihm vorübergegangen ist, bedauert er ihren Verlust, denn er dachte sie lieben zu können.

Dieses Gedicht zeigt das Verlangen nach Geborgenheit und den Versuch aus der Anonymität der Großstadt auszubrechen deutlich auf.
Das Sonett besteht ganz typisch aus zwei Quartetten und zwei Terzetten getrennt durch eine Zäsur.
Es wird insgesamt nur ca. eine zehntel Sekunde beschrieben, in der sich die beiden auf der Straße begegnen, doch der Autor hat die Gedanken und Gefühle des lyrischen Ichs in vier Strophen gebracht, welches das immense Verlangen nach Liebe des Großstadtmenschen unterstreicht.
Durch die ausgeprägte Verwendung von Adjektiven wirkt das Sonett emotionsgeladener und feinfühliger (V. 2 „hoheitsvoll“, V.8 „betört“, u.a.).

Des Weiteren ist die Wortwahl aus dem Themengebiet der Liebe entnommen, wie zum Beispiel „Süße“, „Himmel“ oder „Lust“ (V.8). Außerdem werden Ausrufesätze und Fragen angewandt, welche das Sonett wiederum auch emotioneller wirken lassen.
Die Verknüpfung zwischen den Quartetten und Terzetten ist inhaltlich bei den Quartetten durch die fortlaufende Beschreibung der Antlitzes der Frau gegeben und bei den Terzetten durch die Beschreibung der Gefühle des lyrischen Ichs, welches den nahenden Abschied befürchtet. Die Zäsur zwischen den Quartetten und Terzetten ist sehr deutlich gemacht, denn das erste Terzett beginnt mit „ein Blitz“, welches eine Trennung und einen Wechsel ankündigt.

Auch sind in diesem Sonett sehr viele sprachliche Bilder und Symbole zu erkennen. So erscheint der Gang der Frau in der ersten Strophe, wie der sanfte Wellengang des Meeres. Die Erwähnung der Nacht in Vers neun steht für das plötzliche Erkennen des lyrischen Ichs, dass die Frau vorübergehen und er sie nie wieder sehen wird.

Es ist deutlich zu erkennen, dass das lyrische Ich sich allein fühlt, denn die Begegnung mit dieser Frau, welche nur flüchtig ist und keine Bedeutung hat, wird für ihn zu einem besonderes Ereignis, welches ihn psychisch mitnimmt. So verstummt für ihn der Großstadtlärm beim Anblick dieser Frau und er fühlt sich betäubt (V. 1). Diese Betäubung kommt auch in Vers sechs zum Ausdruck, denn dort trinkt das lyrische Ich aus dem Auge der Frau wie ein Verrückter, als wäre er fast verdurstet. Auch die Anapher in Vers vierzehn drückt die große Bedeutung dieser Begegnung für das lyrische ich aus, da er diese Frau zu verehren scheint. Obwohl er sie nur sehr kurz sah, bildete er sich ein sie lieben zu können.

Ich denke, dass Baudelaire mit diesem Sonett die unausgesprochenen Gefühle vieler Großstadtmenschen genau auf den Punkt gebracht hat. Denn die Anonymität und Suche nach Geborgenheit machte vielen Menschen zu schaffen, sodass selbst solche kurzen, eigentlich bedeutungslosen Begegnungen bei diesen Menschen fast schon ein Gefühlschaos hervorriefen. Und sie dachten ihre große Liebe gefunden zu haben, nur weil sie den Gedanken nicht mehr ertrugen allein zu sein.
Noch anzumerken ist, dass dieses Gedicht aus dem Jahre 1860 stammt, also eigentlich vor der Zeit des Expressionismus, in dem die Dichter die Negativität des Großstadtlebens beklagten.



Weblinks:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Baudelaire