Gedichtinterpretation: Georg Heym – Halber Schlaf (Expressionismus, von Lembke)

Georg Heym [1] 1887-1912


1 Die Finsternis raschelt wie ein Gewand,
2 Die Bäume torkeln am Himmelsrand.

3 Rette dich in das Herz der Nacht,
4 Grabe dich schnell in das Dunkele ein,
5 Wie in Waben. Mache dich klein,
6 Steige aus deinem Bette.

7 Etwas will über die Brücken,
8 Er scharret mit Hufen krumm,
9 Die Sterne erschraken so weiß.

10 Und der Mond wie ein Greis
11 Watschelt oben herum
12 Mit dem höckrigen Rücken.


Analyse und Interpretation:

In Georg Heyms Gedicht „Halber Schlaf“ geht es um den Zwischenzustand von Wachheit und Schlaf.
Das Gedicht besteht aus vier Strophen, die sowohl von ihrer Verszahl als auch von ihrem Reimschema nicht übereinstimmen. Die erste Strophe umfasst lediglich zwei Verse, die durch die Verwendung eines Paarreims eine feste Einheit darstellen. Die folgende Strophe besteht aus vier Versen, wobei sich nur der zweite und dritte Vers dieser Strophe miteinander reimen und somit einen Paarreim bilden, der von den anderen beiden Versen umarmt wird. Die dritte und vierte Strophe, beide á drei Verse, sind in einem erweiterten, umarmenden Reim verfasst. Somit sind die letzten beiden Strophen spiegelsymmetrisch aufgebaut und wirken formal gesehen in sich geschlossen und somit unteilbar.
Inhaltlich gesehen bilden die dritte und vierte Strophe jedoch keineswegs eine Einheit, vielmehr bezieht sich die vierte Strophe auf die erste, wodurch eine Art Rahmen geschaffen wird. Inhaltlich wird in dieser Rahmenhandlung die Natur beschrieben. Es handelt sich um äußerliche Beschreibungen von der Finsternis, Bäumen und dem Mond. Alle genannten Subjekte werden personifiziert und teilweise durch Vergleiche noch näher bestimmt (vgl. V. 1 f., 10 ff.). Die erste Strophe setzt sich durch ihre Einheit, die auch durch die Anapher und die parallelismusartige Stellung der Sätze hervorgerufen wird, von der nächsten Strophe ab. Auch die vierte Strophe bildet durch den Zeilenstil eine Einheit für sich und schafft so eine Abgrenzung zu den anderen Strophen.

Die zweite Strophe bildet inhaltlich den Höhepunkt des Gedichtes: Durch drei Imperative, die parallelismusartig geordnet sind, wird die Aufforderung ausgedrückt, sich zurückzuziehen. Relativiert werden diese Aufforderungen durch einen vierten Imperativ, der hingegen das aufstehen befielt. Hervorzuheben ist, dass alle Verse der zweiten Strophe mit betonten Silben beginnen. Dies soll vermutlich den befehlerischen Ausdruck der Imperative stärken. Zudem wird der dritte Imperativ durch eine vorangestellte Zäsur deutlich verstärkt.

Die dritte Strophe handelt von etwas, was aufbrechen will und von dem Erschrecken der Sterne (vgl. V.7ff.).
Durch diese am Aufbau orientierte, inhaltliche Zusammenfassung, wird deutlich, dass zwischen der ersten und vierten und der zweiten und dritten Strophe ein deutlicher Unterschied der Wahrnehmungen besteht. In der Rahmenhandlung, in der es um, wenn auch abstrakte, d. h. personifizierte, Naturbeschreibungen geht, wird von einem lyrischen Ich die Natur beschrieben. Es handelt sich also um konkrete Beobachtungen und Wahrnehmungen in der Realität.

In der zweiten Strophe geht es um eine direkte Aufforderung. Es kann vermutet werden, dass hier das Unterbewusstsein des lyrischen Ichs zum sich noch in der Realität befindenden Ich spricht und es auffordert, sich zur Ruhe zu begeben, um dem Unterbewusstsein so Freiraum für seine Entfaltung zu geben. Der letzte Vers der zweiten Strophe könnte hingegen als ein Befehl des Ichs an das Unterbewusstsein verstanden werden. Dies wäre ein Befehl zum aufstehen, da sich das sonst in der Realität Denkende nun zum Schlafen begeben hat. Unterstützt wird die Behauptung, dass hier zwei unterschiedliche Arten des Bewussteins miteinander kommunizieren, dadurch, dass sich in dieser Strophe der erste und der letzte Vers nicht reimen (V.3 und 6). Somit könnte zum Ausdruck gebracht werden, dass „Nacht“ und „Bette“ nicht, wie man es aus dem normalen Sprachgebrauch her kennt, thematisch harmonieren, sondern, dass sie in einem gewissen Gegensatz zueinander stehen. Bei der Assoziation von „Bett“ und „Nacht“ denkt man normalerweise an Schlaf. Im Zusammenhang mit der Behauptung, dass das Unterbewusstsein mit dem Ich kommuniziert, kann selbstverständlich nicht von der Assoziation Schlaf ausgegangen werde, da durch das Einschlafen des Körpers, das Unterbewusstsein erwacht.

Dieses Erwachen wird in der dritten Strophe beschrieben, indem der Übergang von Wachheit und Schlaf dargestellt wird. Durch das Bild der „Brücken“ wird deutlich, dass eine große Diskrepanz zwischen Realität und Schlaf besteht und dass es nur einen kurzen Moment gibt, indem eine Mischform der Zustände vorliegt, dies ist der Weg über die Brücke. In den Versen sieben und acht scheint es, als ob das Unterbewusstsein durchdringt und somit die Brücke überquert. Durch die Wörter „etwas“ und „er“ wird dem Leser eine große Vorstellungsmöglichkeit gegeben, was sich genau in welchem Zustand befindet. Im neunten Vers dringt die Realität wieder durch und verdrängt den Schlaf und somit das Unterbewusstsein. Auffällig ist an dieser Stelle, dass beide Zustände, d. h. der des Übergangs von der Wirklichkeit in den Schlaf und der des wieder Erwachens in einem Satz Ausdruck finden. Durch das Zusammenführen dieses inhaltlichen Paradoxons zu einer Synthese, wird deutlich, dass keine klaren Grenzen zwischen Wachheit und Schlaf existieren. Auch die Syntax der darauf folgenden Verse unterstützt die inhaltliche Aussage. In dieser Strophe geht es, wie oben schone erwähnt, wieder um reale Naturbeschreibungen, da das lyrische Ich nun wieder ganz erwacht ist und das Unterbewusstsein vorerst verdrängt hat. Durch die beiden Enjambements wirkt die Beschreibung sehr fließend, ja sogar schon träge und es scheint, als ob das lyrische Ich schon wieder der Realität zu entweichen droht und sich so dem Schlaf hingibt und eindämmert.

Der Zwischenzustand von Wachheit und Schlaf, indem das Unterbewusstsein langsam in die realen Gedanken und Wahrnehmungen eingreift und somit das Anwesend sein in der Realität verdrängt, löst eine gewisse Unsicherheit aus, da durch das Auftreten des Unterbewusstseins die Kontrolle in der Realität entzogen wird. Dieser Gedanke von der Abkehr der Sicherheit wird durch das unregelmäßige Metrum verstärkt: Das Versmaß könnte in Jamben und Anapäste gegliedert werden, ist jedoch keineswegs gleichmäßig. Ein weiteres Indiz für die Unsicherheit des lyrischen Ichs indem Zwischenzustand von Wachheit und Schlaf, ist die Wahrnehmung der Bäume und des Mondes, die als torkelnd bzw. watschelnd beschrieben werden. Beide Verben drücken eine unsichere Bewegung aus, wodurch die Wahrnehmung des lyrischen Ichs, beeinflusst von der Müdigkeit, dargestellt werden könnte.

Zusammenfassend und als Unterstützung der Interpretationsthese, dass dieses Gedicht um den Zwischenzustand von Wachheit und Schlaf geht, ist es lohnend, die Überschrift genauer zu betrachten. Geht man davon aus, dass der Mensch einerseits ein Unterbewusstsein hat und dass im Schlaf unter der Oberfläche in den Tiefenschichten der Psyche Prozesse ablaufen, die das Seelenleben beeinflussen und dass der Mensch andrerseits unabhängig von diesen unbewussten Vorgängen, bewusst und aktiv denkend handeln kann, so ist es logisch, dass sich ein halber Teil des Menschen immer in einem Zustand des Schlafens befindet. Wenn der Mensch tagsüber handelt, ruht das Unterbewusstsein und wenn der Mensch nachts schläft, ruht der Körper und das aktive Handeln und das Unterbewusstsein ist tätig. Somit befindet sich der Mensch permanent in einem halben Schlaf.



Weblinks:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Heym